Ein ukrainischer Panzer schießt an der Front bei Tschassiw Jar.
interview

Ukrainische Offensivaktionen "Die Ukrainer kommen gut voran"

Stand: 13.06.2023 19:01 Uhr

Die Ukrainer haben erste russische Linien durchbrochen, sagt der Militärexperte Lange. Russland profitiere aber von seiner Lufthoheit und gut ausgebauten Stellungen. Dennoch gebe es Anzeichen dafür, dass die Ukrainer gut vorankommen.

tagesschau.de: An der Front in der Ukraine ist Bewegung - man hört von kleineren ukrainischen Geländegewinnen und von ukrainischen Verlusten. Einen großen zentralen Vorstoß gibt es aber noch nicht. Ist das mittlerweile die Gegenoffensive?

Nico Lange: Ja, das ist die Gegenoffensive. Sie hat schon vor einiger Zeit begonnen. Sie ist nun auch sichtbar durch die Vorstöße mit Schützenpanzern und Kampfpanzern moderner westlicher Bauart, die unter anderem auch Deutschland geliefert hat.

Diese Gegenoffensive muss aber nicht so ablaufen, wie wir uns das vielleicht vorstellen. Wenn wir ehrlich sind, haben wir gar keine Erfahrung damit.

Nico Lange
Zur Person

Nico Lange ist Senior Fellow bei der Münchner Sicherheitskonferenz und war bis Anfang 2022 Leiter des Leitungsstabes im Bundesministerium der Verteidigung. Er lebte und arbeitete zuvor lange in Russland und der Ukraine und spricht fließend Russisch und Ukrainisch. Lange lehrt aktuell am Lehrstuhl für Militärgeschichte der Universität Potsdam. 

"Langsames und vorsichtiges Vorgehen erforderlich"

tagesschau.de: Wie stellen sich denn die Kämpfe bislang dar, und was geschieht zurzeit?

Lange: Russland konnte seine Verteidigungsstellungen ausbauen - unter anderem auch, weil wir Schützenpanzer, Kampfpanzer, andere Dinge zu spät geliefert haben. Die Ukraine sieht sich daher etwa mit riesigen, sehr dichten Minenfeldern konfrontiert, sowie mit Verteidigungsstellungen mit Betonblöcken und anderen Schutzmaßnahmen der Russen.

Wenn man dagegen bei einer Offensive vorgehen will, muss man das mit Umsicht tun. Die Ukraine versucht es nachts mit Fahrzeugen, die Minen räumen können, vorneweg und Schützenpanzern und Kampfpanzern hinterher. Aber eben in kleineren Formationen und nicht, indem man, wie mancher das erwartet hat, "Hurra" schreit und an einem Ort mit allen Kräften auf die russischen Stellungen zustürmt.

Die Ukraine hat jetzt an mehrere Stellen, in den Gebieten Luhansk, Donezk und Saporischschja diese Angriffe ausgeführt, teilweise auch die erste Verteidigungslinie durchbrochen. Aber es ist noch ein weiter Weg und erfordert ein in dieser Phase erstmal langsames und vorsichtiges Vorgehen.

Und ob es so etwas wie einen richtigen Hauptstoß geben wird, wo dann die Ukraine mit massiven Kräften angreift, das wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht. Bisher sehen wir mehrere Achsen entlang der Frontlinie, auf denen die Ukraine angreift.

"Russischer Terror gegen Zivilisten zahlt sich aus"

tagesschau.de: Wie fällt die russische Gegenwehr aus?

Lange: Leider macht sich der Terror gegen die Zivilbevölkerung für Russland bezahlt. Das ist das Hauptproblem in dieser Phase. Das ist ja auch in der Nacht zu heute wieder passiert, in Krywyj Rih.

Russland schießt mit Marschflugkörpern, mit Raketen, mit Drohnen auf zivile Ziele. Die Ukraine ist daher gezwungen, die Luftverteidigungssysteme zu nutzen, um die Menschen in den Städten zu schützen. Aber Russland fliegt an der Front Luftangriffe mit Hubschraubern, Flugzeugen, Drohnen gegen die vorrückenden ukrainischen Truppen. Und dort hat die Ukraine dann nicht genügend Ressourcen zur Luftverteidigung.

Wir werden sehen, wie die Russen sich verhalten, wenn die Ukraine es schafft, die Verteidigungslinien zu durchbrechen. Es kann sein, dass es jetzt zunächst erstmal langsam aussieht und dass dann plötzlich, wie im letzten Herbst, sehr große Bewegung in diesen Krieg kommt. Die Ukraine arbeitet darauf hin. Aber das kann man zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen.

Ukrainische Verlust "halten sich sehr in Grenzen"

tagesschau.de: Was bringen die westlichen Waffensysteme bislang? In russischen Medien werden Bilder von zerstörten Leopard-Panzern gefeiert. Wie ist das einzuschätzen?

Lange: Die westlichen Schützenpanzer und Kampfpanzer sind sehr gut. Sie bieten mehr Schutz als die Systeme, die die Ukraine vorher hatte. Und sie sorgen dafür, dass die Crews überleben. Dass es Verluste geben würde, war klar. Es hat niemand erwartet, dass man mit ein paar Panzern da durchfährt und dann den Krieg gewinnt.

Für Angriffsoperationen braucht man eine Überlegenheit von drei zu eins oder an besonders befestigten Stellungen auch von fünf zu eins - und zwar, weil man mit Verlusten rechnen muss.

Die Russen präsentieren nun immer wieder Bilder der gleichen Fahrzeuge aus unterschiedlichen Winkeln und tun so, als seien es sehr viele zerstörte Panzer. In Wahrheit sind es wenige. Wenn das in diesen Tagen der Gegenoperation bislang alle Verluste der Ukrainer sind, dann hält sich das sehr in Grenzen. Und daraus kann man eigentlich schließen, dass die Ukraine ganz gut vorankommt.

"Entscheidende Prüfung steht noch aus"

tagesschau.de: Wie beurteilen Sie denn die Erfolge der bisherigen ukrainischen Offensive?

Lange: Die Ukraine ist dazu gezwungen, anzugreifen, ohne eine Luftüberlegenheit hergestellt zu haben. Aber diese sehr ruhige Vorgehensweise der Ukraine, wo bisher nur wenige Kräfte für die Gegenoffensive aufgewendet werden, wo man nicht kommuniziert - das zeugt von einem hohen Selbstbewusstsein der Ukrainer. Ich habe das Gefühl, die Ukrainer trauen sich zu, die russischen Verteidigungslinien zu durchbrechen. Und sie haben dafür einen Plan, den sie jetzt ruhig abarbeiten.

Die Front verläuft in Form eines Halbkreises - und die Ukraine hat die Vorteile der sogenannten inneren Linien. Das heißt, sie hat die kürzeren Wege und könnte, wenn an einer Stelle die Front durchbrochen wird, darauf relativ schnell reagieren und mehr Kräfte dahin bringen. Für Russland wäre das schwerer, weil Russland auf den äußeren Linien immer größere Wege zurücklegen muss.

Natürlich kann es aber auch sein, dass die Ukraine zurzeit auf Täuschungsmanöver setzt oder auf Manöver, um russische Kräfte zu binden. Es ist gut und richtig, dass wir das nicht wissen.

Meine erste vorsichtige Bewertung ist, dass die Ukrainer an vielen Stellen vorankommen, dass aber die entscheidende Prüfung noch aussteht: ob man die Hauptverteidigungslinie durchbrechen kann. Ich bin nach dem Verlauf der Dinge und mit Blick auf die bisher eingesetzten Ressourcen optimistisch, dass sie das schaffen werden. Wo das genau sein wird und wann das passiert, darüber möchte ich aber nicht spekulieren.

"Russland wird dem nicht viel entgegenzusetzen haben"

tagesschau.de: Sie sagen, dass bislang erst wenige Kräfte der Ukrainer zum Einsatz kamen. Können Sie das genauer darstellen?

Lange: Die Ukraine hat neun Brigaden mit Schützen- und Kampfpanzern westlicher Bauart, zwei weitere mit sowjetischer Bauart. Das sind ja erhebliche Kräfte. Bisher sind aber erst ein Viertel der gut ausgebildeten und ausgerüsteten Kräfte der Ukraine zum Einsatz gebracht worden. Es ist gut, dass die Ukraine sich noch die Kraft bewahrt, für den Fall, dass ein Durchbruch erreicht wird. Denn erst dann kann sie ja anfangen, die Gebiete wirklich zu befreien.

Die russische Seite hat dagegen schon jetzt sehr viele ihrer Reserven an die Frontlinie gebracht, auch aus dem durch den Bruch des Damms überfluteten Gebiet. Das war ja wohl auch die Idee der Russen: die Gegend zu fluten, um die Kräfte dort abziehen und dann die Front im Süden stärken zu können.

All das heißt, wenn es wirklich gelingt, so einen Durchbruch zu erreichen, dann wird Russland dem nicht mehr viel entgegenzusetzen haben.

Das Gespräch führte Christoph Schwanitz, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 12. Juni 2023 um 20:00 Uhr.