Angriffe auf ukrainische Stadt Steht Pokrowsk vor russischer Besatzung?
Seit Wochen greifen russische Truppen mit aller Macht Pokrowsk in der Ostukraine an. Schon jetzt sind Tausende auf der Flucht. Die Bewohner haben Angst, dass Russland komplett die Kontrolle übernimmt.
"Wir kommen um zu evakuieren", ruft Franky van Hintum über das rostbraune Tor im Dorf Schevtschenko südlich der Stadt Pokrowsk im Donbass. "Wäre ich alleine, würde ich bleiben, aber ich muss an meine Enkelin denken", antwortet Nina dem Mitgründer der holländischen Stiftung "Franky und Coen". Das Mädchen mit der weißen Basecap und den langen braunen Haaren folgt der älteren Dame durch das Tor. Ihre Großmutter verlässt ihr Haus sichtbar ungern, doch es muss sein.
Evakuierung von mehr als 50.000 Menschen
Während die Aufmerksamkeit auf den ukrainischen Einmarsch in das russische Gebiet Kursk fällt, rücken die russischen Invasoren im Donbass immer weiter vor. Scheinbar unaufhaltsam gerät seit Monaten ein Dorf nach dem anderen unter russische Besatzung. Auch die Stadt und die Region Pokrowsk im Gebiet Donezk stehen seit Monaten unter Dauerbeschuss.
Mehr als 50.000 Menschen leben laut Behördenangaben dort, darunter rund 4.500 Kinder. Die Behörden rufen eindringlich zur Evakuierung auf und haben die Zwangsevakuierung von Kindern angeordnet. Nur noch knapp zwei Wochen könnte es dauern, bis die russische Armee auch bis hierher vorgerückt ist, warnen die Behörden eindringlich. Sie fordern deshalb die Menschen auf, sich vor heftigen Kämpfen in Sicherheit zu bringen.
Am besten wäre es, wenn alle weggingen, so der Leiter der regionalen Militärverwaltung Serhij Dobrjak besorgt: "Zuerst müssen wir Kinder und Familien in Sicherheit bringen und das sind ungefähr 7.000 Menschen."
Verteidigung um Pokrowsk soll gestärkt werden
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj besuchte am Donnerstag ukrainische Truppen in der Region Sumy im Nordosten des Landes, von wo aus die Offensive in die russische Grenzregion Kursk durchgeführt wurde.
In seinen Gesprächen dort mit Armeechef Oleksandr Syrskyj sei auch die Lage in Pokrowsk Thema gewesen. Es sei um Maßnahmen zur Stärkung der Verteidigung von Pokrowsk gegangen sowie die Stadt Torezk.
"Schlimm, wenn wir aufgeben müssten"
Im Donbass verteidigt die ukrainische Armee die Region unter anderem mit schwerer Artillerie. Die Soldaten der 148. Brigade versuchen dort, die russischen Invasoren aufzuhalten. Nahe der Stadt Kurachowe zieht ein junger bärtiger Soldat mit Rufnamen Gutsul ernst und nachdenklich an einer Zigarette.
Es sei traurig, dass die Russen vorrücken würden, meint er gegenüber einem Team der Nachrichtenagentur AP und erinnert daran, dass der Krieg 2014 und nicht erst 2022 angefangen habe: "Es wäre sehr schlimm, wenn wir hier in der Region Donezk aufgeben müssten, denn unsere Männer sterben hier schon so lange."
Tankstellen, Banken und Post in Pokrowsk noch offen
Pokrowsk ist eine Minenstadt, in der nach wie vor Kohle abgebaut wird. Seit dem Beginn der Großinvasion überzieht Russland auch diese Stadt mit tödlichen Raketen- und Drohnenangriffen.
In den vergangenen sechs Monaten sei es besonders heftig gewesen, erzählt Einwohnerin Olena Jermolenko dem ARD-Studio Kiew. Die ukrainische Offensive ins russische Gebiet Kursk habe daran nichts geändert, so ihr Eindruck. Denn bis auf wenige Kilometer ist die Front scheinbar unaufhaltsam an Pokrowsk herangerückt.
Menschen verschicken Dinge in sichere Gegend
Viele verlassen die Stadt und verschicken Möbel, Fernseher oder Haushaltsgeräte per Post in sicherere Gebiete. Auch das Krankenhaus bringe medizinische Geräte in Sicherheit, erzählt die lokale Journalistin Olena Jermolenko. Die Ärzte würden blieben. Außer der Post seien Tankstellen, Banken und viele Geschäfte noch geöffnet, aber große Supermärkte seien geschlossen und die Stadt leer geworden. Es sind nur wenige Menschen auf den Straßen, aber paradoxerweise gibt es viele Autos und Verkehr. Die Situation ist sehr angespannt.
Ihre Kinder haben Pokrowsk längst verlassen, doch Jermolenko und ihr Ehemann pendeln zwischen ihrer Heimatstadt und Dnipro, rund 180 Kilometer westlich. Die Mieten dort seien hoch, doch sie hätten Glück und könnten in der Wohnung von Verwandten sein. Das aufreibende Hin und Her ist für Jermolenko ein emotionaler Kraftakt. Sie weint.
"Der Geruch meines Zuhauses treibt mir Tränen in die Augen. Als wir gerade dort waren, habe ich die Wände gestreichelt und in Gedanken mit der Wohnung gesprochen. Ich habe sie gebeten, auf uns zu warten."
Wichtiger Eisenbahn- und Straßenknotenpunkt
Zum ersten Mal seit dem schmerzhaften ukrainischen Rückzug aus Awdijiwka im Februar 2024 steht mit Pokrowsk eine Stadt derart unter Druck. Es wäre harter Schlag, sollte Pokrowsk unter russische Besatzung geraten.
Militärexperten halten unter anderem folgendes Szenario für denkbar: Die ukrainische Armee werde Pokrowsk so lange wie möglich verteidigen, denn die Stadt ist ein wichtiger logistischer Knotenpunkt in der Region Donezk und liegt an militärisch relevanten Eisenbahnlinien und Straßen, sowohl in Richtung Westen als auch in Richtung Osten und Nordosten und damit Richtung Front. Gelänge es russischen Truppen tatsächlich, diese Verbindungen zu unterbrechen oder zu blockieren, wäre die Versorgung der ukrainischen Front deutlich langwieriger.
Droht russische Belagerung?
Die ukrainische Armee könne Pokrowsk grundsätzlich gut verteidigen und den russischen Vormarsch im Donbass möglicherweise stoppen. Doch es könnte eine monatelange blutige Belagerung drohen. Dann läge Pokrowsk am Ende wohl in Schutt und Asche, wie heute russisch besetzte ukrainische Städte wie Awdijiwka, Soldedar oder Bachmut.
Die aufreibende Evakuierung der Menschen läuft unterdessen weiter. Wie es für sie und ihre Region weitergeht, ist zurzeit ungewiss.