Pro-europäische Kundgebung auf dem Kiewer Maidan am 12. Januar 2014
interview

Zehn Jahre Maidan-Revolution "Die Ukrainer haben sich Putin nicht ergeben"

Stand: 21.11.2023 06:28 Uhr

Eine Revolution für Freiheit und Unabhängigkeit: So blickt der Ex-Ministerpräsident der Ukraine, Jazenjuk, auf die Proteste auf dem Maidan vor zehn Jahren zurück. Für ihn besteht eine direkte Verbindung mit den Plänen Putins, die Ukraine anzugreifen.

ARD: Sie waren von 2014 bis 2016 Premierminister der Ukraine. Wie hängt der heutige russische Angriffskrieg aus Ihrer Sicht mit den Entwicklungen auf dem Maidan zusammen?

Arsenij Jazenjuk: Es gab zwei Revolutionen in der Ukraine. Eine dieser Revolutionen war die "Orangene Revolution" von 2004. Die nächste Revolution war die "Revolution der Würde" im Jahr 2014. Beide Revolutionen zeigten den Wunsch der Ukrainer nach Freiheit, nach Unabhängigkeit. Und beide Revolutionen stellten die größte Gefahr für Wladimir Putin persönlich dar. 

Bei der Revolution 2004 rebellierten die Ukrainer, weil der damalige Ministerpräsident Wiktor Janukowitsch, der von Putin durchgedrückt worden war, die Präsidentschaftswahlen manipulieren wollte. Aber im Jahr 2010 half Putin seinem sogenannten Präsidenten Janukowitsch, gewählt zu werden. Und dann beschloss er, nicht nur das Kabinett des Präsidenten zu entmachten, sondern die gesamte Ukraine.

"Die freie Welt kann vor Diktatoren nicht kapitulieren, sie kann nur gewinnen", ukrainischer Politiker Arsenij Jazenjuk im Interview mit Vassili Golod, ARD Kiew

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Denn der Hauptgrund, warum die Ukrainer auf den Maidan gingen, war, dass "Putins Präsident" 2014 die Unterschrift unter das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zurückzog. Die Ukraine wollte nach Europa zurückkehren, und Putin und der von ihm unterstützte Präsident haben diesen Weg nach Europa gestoppt.

Putin verliert die Revolution 2004 in der Ukraine, Putin verliert die Ukraine 2014, er beginnt die illegale Annexion der Krim 2014, als ich Premierminister wurde. Putin schickte sein Militär nach Donezk und Luhansk, also in die Ostukraine. Und er dachte, dass die Regierung stürzen würde, dass der Westen sich von uns abwenden würde und dass er immer noch in der Lage sein würde, die Ukraine zu übernehmen. Aber auch das geschah nicht.

Und so bereitete er einen Großangriff im Jahr 2022 vor. Und dafür gibt es im Prinzip nur einen Grund: Putins Wunsch, die Ukraine zu vernichten, sie zu absorbieren und die Sowjetunion wiederherzustellen. Und trotz seines großen Wunsches haben sich die Ukrainer Putin nicht ergeben.

Arsenyj Jasenjuk
Zur Person
Arsenij Jazenjuk leitet das Kyiv Security Forum. Von 2014 bis 2016 war er Premierminister der Ukraine, zunächst als Interimspremier nach dem Aufstand auf dem Maidan und der Flucht der bisherigen Regierung, dann Regierungschef unter dem neugewählten Präsidenten Petro Poroschenko. Unter dem früheren Präsidenten Wiktor Juschtschenko war Jazenjuk unter anderem Wirtschafts- und Außenminister und Parlamentspräsident.

Ungarn als Verbündeter Russlands

ARD: Trotz der militärischen Unterstützung aus dem Westen hat es in diesem Jahr keine Durchbrüche gegeben. Welche Möglichkeiten sehen Sie, den Krieg zu beenden?

Jazenjuk: Die Situation ist komplizierter, denn Russland ist ein Land, das nicht unterschätzt werden darf. Es ist ein äußerst ernst zu nehmender Feind. Und trotz der verhängten Sanktionen, trotz der militärischen Unterstützung für die Ukraine, trotz der Einigkeit in der ukrainischen Gesellschaft gelingt es Russland, seine Militärausgaben zu finanzieren, die Sanktionen zu umgehen, seine eigene Bevölkerung zu mobilisieren und sogar Verbündete zu haben.

Und zwar nicht nur im Osten, sondern auch im Westen. Denn wie sonst soll ich das Verhalten Ungarns und des ungarischen Ministerpräsidenten bewerten? Er unterhält Beziehungen zu einem Land, das eine Aggression gegen die Ukraine begangen hat, und er stellt sich gegen die Politik der NATO und der Europäischen Union. 

Meinungsverschiedenheiten "etwas Natürliches"

ARD: Es gibt Meinungsverschiedenheiten zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seinem Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj. Wie bewerten Sie das?

Jazenjuk: Das ist etwas Natürliches. Und es ist sogar normal, wenn es einen Dialog gibt, wenn es einen Wettbewerb der Ideen gibt. Die politische Führung hat vielleicht eine Vision, die militärische Führung eine andere. Das Wichtigste ist: Selbst, wenn es Widersprüche gibt, dann besteht die Stärke und Weisheit darin, diese Widersprüche aufzulösen und einen gemeinsamen Standpunkt zu finden.

Deshalb habe ich mich sogar öffentlich sowohl an den Präsidenten der Ukraine als auch an den Oberbefehlshaber der Streitkräfte gewandt. Wir dürfen keinem unserer Feinde auch nur den Hauch einer Chance geben, zu glauben, dass wir Differenzen haben, die den ukrainischen Staat schwächen könnten. Halten Sie zusammen eine Pressekonferenz und zeigen Sie der ganzen Welt, dass, wenn wir vielleicht auch mal unterschiedliche Ansätze haben können, wir dennoch ein einziges Ziel haben: den Sieg des Landes.

EU-Beitritt "kein Prozess von heute auf morgen"

ARD: Der Weg in die EU war Ihnen persönlich immer schon wichtig. Jetzt ist die Ukraine so nah dran wie nie. Ist die Ukraine bereit für Beitrittsverhandlungen?

Jazenjuk: Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Ukraine bereit ist, Verhandlungen über den Beitritt zur EU zu starten. Und dann wird es um eine Menge von Details geben. Hier müssen wir ehrlich und offen sagen, dass dies kein Prozess von heute auf morgen ist, und leider ist es auch kein Prozess von einem Jahr.

So wie es aussieht, wird es am 14. Dezember ein Treffen der Staats- und Regierungschefs geben. Und jetzt ist es äußerst wichtig, dass der Beschluss zur Aufnahme von Verhandlungen, den die Europäische Kommission dem Europäischen Rat vorgeschlagen hat, angenommen wird.

Und dass sich niemand in den Kopf setzt, diese Entscheidung zu blockieren. Obwohl die Signale, vor allem aus Ungarn, mir schon Sorgen machen. Wenn wir es innerhalb von fünf bis sieben Jahren schaffen können, dann denke ich, wird das ein sehr guter Fortschritt sein.

ARD: Je länger der Krieg andauert, desto mehr leidet die Ukraine. Wie lange wird die Gesellschaft das aushalten können?

Jazenjuk: Es gibt immer eine Grenze. Aber wir können nicht sagen, dass wir die Grenze erreicht haben. Denn das Erreichen der Grenze bedeutet den Verlust des Staates. Der Verlust des Staates bedeutet den Verlust der ukrainischen Nation, der Ukraine als solcher. Das ist genau das, worauf Putin setzt. Deshalb sind wir hier unbegrenzt.

"Das Land hat sich in dieser Zeit verändert"

ARD: Mit der Erfahrung von heute: Was hätten Sie vor zehn Jahren auf dem Maidan und als Premierminister anders gemacht?

Jazenjuk: Wissen Sie, im Jahr 2014 war ich absolut überzeugt, dass wir überleben würden. Ich hatte keine Zweifel. Und wir haben es geschafft. Natürlich gab es Fehler. Es waren die falschen  Personalentscheidungen, es war wahrscheinlich die Geschwindigkeit der Reformen. Vielleicht auch die Qualität dieser Reformen.

Es gab eine Menge Dinge, die - von heute aus betrachtet - besser und effizienter hätten gemacht werden können. Aber 2014 legten wir den Grundstein für ein Land, das seit 2022 in der Lage ist, die russische Aggression zu bekämpfen.

Denn das Land, das ich übernommen habe, hatte zehntausend Dollar im Staatshaushalt. Für das ganze Land. Es gab keine Armee, keine Polizei, kein Gas, kein Öl, kein Geld, keinen Haushalt. Es gab nichts. Es gab nur Schulden und russische Söldner auf dem Gebiet der Ukraine. Das Land hat sich in dieser Zeit verändert und war deshalb in der Lage, Widerstand zu leisten und gegen Russland zu kämpfen.

Das Gespräch führte Vassili Golod, ARD-Studio Kiew.