Ein ukrainischer Soldat zeigt bei Robotyne in Richtung der russischen Stellungen.
interview

Lage im Krieg "Unvorbereitete Offensive wäre ein großer Fehler"

Stand: 24.03.2024 08:15 Uhr

Mehr noch als fehlende Munition mache der ukrainischen Armee Personalmangel zu schaffen, sagt der Militäranalyst Gady nach einem Frontbesuch. Er beschreibt, wie die Ukraine dem russischen Druck standhalten kann.

tagesschau.de: Die Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine ist zunehmend von einem pessimistischen Ton geprägt, was die militärische Lage der Ukraine anbelangt. Welches Bild hat sich Ihnen bei Ihrem jüngsten Frontbesuch geboten?

Franz-Stefan Gady: Die Kampfmoral an der Front ist nach wie vor sehr hoch. Aber im Vergleich zu meinem Besuch vor Beginn der Offensive vor einem Jahr ist eine gewisse fehlende Zielsetzung bemerkbar. Damals gab es ein Ziel, das es zu erreichen galt, den Durchbruch der russischen Verteidigungslinien. Im Moment herrscht unter der Truppe eher eine Perspektivlosigkeit. Was ist der nächste Schritt? Deshalb könnte es dieses Jahr schwierig sein, die Kampfmoral auf dem derzeitigen Niveau zu halten.

Einen Kollaps der Moral sehe ich aber nicht. Wir haben unter anderem mit hohen militärischen Vertretern in Kiew gesprochen und deren aktive Verteidigungsstrategie für dieses Jahr ist, dass jedes Stück ukrainisches Territorium verteidigt wird. Die Front soll gehalten werden, es kann aber auch strategische Rückzüge geben. Und eine Armee in der Verteidigung ist anders motiviert als eine Armee, die in die Offensive geht.

Franz-Stefan Gady
Zur Person
Franz-Stefan Gady ist unabhängiger Analyst und Militärberater. Darüber hinaus ist er Senior Fellow am Institute for International Studies in London und Adjunct Senior Fellow am Center for New American Security in Washington DC. Er berät Regierungen und Streitkräfte in Europa und den Vereinigten Staaten in Fragen der Strukturreform und der Zukunft der Kriegsführung. Feldforschungen und Beratungstätigkeiten führten ihn mehrmals in die Ukraine, nach Afghanistan und in den Irak, wo er die ukrainischen Streitkräfte, die afghanische Armee, sowie NATO-Truppen und kurdische Milizen bei verschiedenen Einsätzen begleitete. Er ist auch Reserveoffizier. Im Oktober erschien sein Buch "Die Rückkehr des Krieges".

"Derzeit noch genügend Artilleriemunition"

tagesschau.de: Dafür gibt es sicher mehrere Ursachen. Bei der Artilleriemunition ist die Lage mindestens bis zum Herbst angespannt. Wie fängt man das an der Front auf?

Gady: Das haben wir bei unserem letzten Besuch an der Front nicht als das Hauptproblem empfunden. Und das wird auch nicht von den Soldaten an der Front so gesehen. Ich bleibe nach wie vor optimistisch, was Munitionslieferungen zumindest für die Artillerie betrifft. Mein Kollege Mike Kofman und ich haben errechnet, dass die ukrainische Armee ungefähr 2.000 bis 3.000 Schuss pro Tag verschießen muss, um eine defensive Strategie aufrecht zu erhalten. Dafür hat die Ukraine derzeit noch genügend Artilleriemunition, obwohl die Feuerrate stetig abzunehmen scheint. Und wenn das US-amerikanische Hilfspaket noch gebilligt wird, kann es sich nur um Tage oder Wochen handeln, bis diese zusätzliche Munition ankommt. Das Hauptproblem ist vielmehr der Personalmangel.

tagesschau.de: Woran liegt das - und wie könnte er gelöst werden?

Gady: Es ist das schwierigste Problem und kann nicht unmittelbar gelöst werden. Es dauert Monate, bis neue Truppen an die Front geschickt werden können und wird vermutlich nicht vor dem Ende des Sommers so weit sein. Sie müssen adäquat ausgebildet werden, denn der Einsatz schlecht ausgebildeter Soldaten erhöht die Gefahr hoher Verluste und verringert Motivation und Kampfkraft - das hat auch die Gegenoffensive im vergangenen Jahr gezeigt.

Dass es dieses Personalproblem gibt, hat sich spätestens im vergangenen Herbst abgezeichnet, und darauf hätte die Ukraine früher reagieren können. An dieser Personalsituation haben wir im Westen aber eine Mitverantwortung, weil die Ukraine nicht klar kalkulieren konnte, wieviel Munition bei ihr ankommt. Wenn man vorausplanen kann, ist das eine weitere Motivation, eine Mobilisierung durchzusetzen. Die ist im Moment aber, zugegeben, ausgesprochen unpopulär in der Bevölkerung.

Zu wenig Verteidigungsanlagen

tagesschau.de: Ein Problem, von dem wir hören, ist der mangelnde Ausbau von Verteidigungslinien auf ukrainischer Seite. Wie haben Sie es erlebt?

Gady: Das ist das dritte und unmittelbare Problem, das wir erkennen konnten - fehlende Verteidigungsanlagen, die nicht systematisch ausgebildet worden sind. Dafür gibt es einerseits nachvollziehbare Gründe - ein Ausbau könnte als Eingeständnis gesehen werden, dass das Gebiet, das über diese Verteidigungsanlagen hinausgeht, in naher Zukunft nicht zurückerobert werden kann.

Es gibt aber auch strukturelle Probleme. Andres als die russischen Streitkräfte hat die ukrainische Armee keine eigenen übergeordneten Einheiten dafür abgestellt, die nur in der Etappe in der zweiten oder dritten Verteidigungslinie arbeiten. Die Ukraine hat nur in den einzelnen Brigaden Pionierelemente, und die können nur die vorderste Front, die von dieser Brigade verteidigt wird, ausbauen. Allerdings gibt es hier die klare Absicht, solche Anlagen zu errichten und auszubauen.

Welche Probleme die russische Armee hat

tagesschau.de: Die Russen haben in der Schlacht um Awdijiwka große Verluste erlitten - Sie haben sie auf 16.000 Soldaten geschätzt. Und dennoch ist die Truppenstärke nicht das entscheidende Problem der russischen Armee?

Gady: Die Russen haben das Personallevel stetig halten können und schaffen es, im Monat mehrere zehntausend Soldaten zu rekrutieren, sodass ihre Verluste ausgeglichen werden und die Truppen nicht an Kampfkraft verlieren. Auch bei der Artilleriemunition sehe ich für dieses Jahr und zumindest die erste Hälfte 2025 kein wirkliches Problem der russischen Streitkräfte, solange genügend Ersatzrohre für die Geschütze vorhanden sind.

Ihr größeres Problem ist die Ausrüstung, insbesondere fehlende gepanzerte Fahrzeuge. Wir haben gesehen, dass teilweise viel älteres Gerät benutzt wird, um die Soldaten an die Front zu bringen und entlang der Front auf dem Gefechtsfeld selbst zu transportieren. Hier schmerzen die Verluste der gepanzerten Fahrzeuge die russische Armee doch enorm.

Zermürbende 500-Kilo-Bomben

tagesschau.de: Die Russen haben nach wie vor die Luftüberlegenheit, greifen großflächig mit Drohnen an, aber in diesem Jahr auch mit modernisierten Gleitbomben vom Typ FHB-3000, deren Produktion sie deutlich erhöht haben. Welche Rolle spielen sie?

Gady: Diese Bomben haben einen enormen Effekt, auch psychologisch. Dabei ist ihre Trefferquote gering. Die Explosionskraft ist aber beeindruckend. Bei einem Besuch im Winter konnten wir die Krater sehen, die diese 500-Kilo-Bomben hinterlassen.

Wenn man so eine Bombe schon in der Ferne explodieren hört, hat das eine große zermürbende Wirkung. Darauf ist in unseren Gesprächen immer wieder hingewiesen worden. Auf dem Höhepunkt der Schlacht um Awdijiwka wurden dutzende dieser Bomben innerhalb von Stunden abgeworfen.

"Die Gefahr ist real, dass es zu einer Offensive kommt"

tagesschau.de: Wie schätzen Sie die Fähigkeit der russischen Armee ein, in die Offensive zu gehen?

Gady: Die Offensivfähigkeit der russischen Streitkräfte wird meines Erachtens in den kommenden Monaten zunehmen, es sei denn, sie begehen irgendeinen fatalen operativen oder strategischen Fehler. Russland hat im Durchschnitt nach wie vor eine Artillerieüberlegenheit von 5:1 bis 6:1, gleichzeitig keinen Personalmangel und noch genügend Material, um eine weitere größere Schlacht zu kämpfen. Wir werden deshalb wahrscheinlich in den kommenden Monaten sehen, dass die russischen Streitkräfte langsam und stetig entlang der Front Druck entlang verschiedener Angriffsachsen aufbauen werden und dann hoffen, dass es zu einem größeren Durchbruch kommt.

Aber wenn die Russen zu große Verluste an Material erleiden, vor allem an gepanzerten Fahrzeugen, könnte das schwierig sein. Dennoch ist die Gefahr real, dass es zu einer Offensive kommt, in der die Ukraine Frontgebiete aufgeben muss. Das muss nicht in unmittelbarer Zukunft eintreten, kann aber in der letzten Hälfte des Jahres geschehen.

Wie die Ukraine durchhalten kann

tagesschau.de: Glauben Sie, dass die Ukraine durchhalten kann, bis die Rüstungsproduktion in Europa und den USA  wieder Fahrt aufgenommen hat?

Gady: Die Ukraine kann vermutlich durchhalten, solange die Defizite, die ich erwähnte, in den Bereichen Personal und Munition adressiert werden. Und ich glaube auch, dass ein teilweiser Kollaps der Front nicht unmittelbar die Kriegsniederlage bedeutet. Es würde die Situation schwieriger machen. Aber wenn die Ukraine es schafft, ihre eigenen Truppen zu schonen, das Personalproblem so schnell wie möglich zu lösen, gleichzeitig gut ausgebaute Verteidigungsstellungen zu beziehen und zusätzlich noch mit Munition versorgt wird, dann sehe ich eine reale Chance, dass die ukrainischen Streitkräfte sich neu formieren und dann vielleicht 2025 wieder offensiv tätig werden können.

Ein großer Fehler wäre, wenn die Ukraine versuchte, noch in diesem Jahr unvorbereitet in die Offensive zu gehen. Natürlich ist es für die militärische Führung grundsätzlich schwierig, unter Druck über ein Jahr hinweg zu sagen: "In diesem Jahr sind keine großen Fortschritte und keine Siege zu erwarten - wir verteidigen uns nur, bauen aber gleichzeitig unsere Streitkräfte auf." Das ist eine Geduldsfrage für die Truppen an der Front.

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 24. März 2024 um 06:20 Uhr.