Zwei Jahre nach Russlands Überfall "Die Ukraine muss in die Defensive gehen"
Munitionsmangel zwingt die ukrainische Armee dazu, im Krieg gegen Russland in die Defensive zu gehen, sagt der Militäranalyst Hendrik Remmel. Wie aber kann die Ukraine in die Offensive kommen - und was versteht der Westen unter einem Sieg Kiews?
tagesschau.de: Zum zweiten Jahrestag des Überfalls auf die Ukraine muss die ukrainische Armee den Rückzug aus der monatelang umkämpften Ortschaft Awdijiwka antreten. Wofür steht dieser Rückzug?
Hendrik Remmel: Die Lage der ukrainischen Armee ist zu Beginn des dritten Kriegsjahres prekär. Aber der Verlust von Awdijiwka wird nicht über den Ausgang des Krieges entscheiden. Relevant war Awdijiwka für die ukrainische Armee als günstiger Ausgangspunkt für einen Angriff auf die Stadt Donezk. Auch deswegen ist es für die russischen Streitkräfte nicht unerheblich, zumindest auf operativer Ebene, dass sie diese Stadt eingenommen haben. Letzteres ermöglicht zudem den weiteren Angriff in Richtung Westen, vor allem auf den Verkehrsknotenpunkt Pokrowsk und gegebenenfalls die anschließende Überflügelung ukrainischer Kräfte im Raum Slowjansk und Kramatorsk. Aber zu glauben, dass die Einnahme durch die russische Armee ein strategischer Game-Changer wäre, ist aus militärischer Sicht abwegig.
"Es geht primär um Abnutzung"
tagesschau.de: Ist denn damit zu rechnen, dass die russischen Streitkräfte nun schnell in Richtung Westen oder Nordwesten vorstoßen?
Remmel: Die Möglichkeit besteht. Aber die russischen Streitkräfte haben es in den vergangenen Jahren nicht vermocht, übrigens genauso wenig wie die ukrainischen, schnell große Raumgewinne zu erzielen. Es gab eine Ausnahme im Raum Charkiw, wo die Ukrainer eine schwache russische Verteidigung und eine Täuschkampagne im Informationsraum zu ihrem Vorteil genutzt haben. Aber grundsätzlich geht es beiden Seiten primär um Abnutzung. Man schaut eher, wie man möglichst große Kräftegruppierungen zerstören kann, auch weil raumorientierte Angriffsoperationen einen extrem hohen Ausbildungs- und Ausrüstungsstand erfordern, den derzeit keine der beiden Seiten im benötigten Maß aufbieten kann.
Wenn die russischen Streitkräfte vorgehabt hätten, den Angriffserfolg in und um Awdijiwka auszunutzen und weiter Richtung Westen vorzustoßen, dann hätten sie das im Optimalfall direkt im Anschluss an den Abzug der ukrainischen Verbände gemacht, das hätten wir jetzt schon sehen müssen. Der Umstand, dass sich die russischen Streitkräfte im besagten Raum eher auflockern als zentrieren, spricht eher dagegen, dass sie in nächster Zeit einen großen operativen Stoß Richtung Westen durchführen. Das liegt auch daran, dass die ukrainischen Streitkräfte auf diese Situation vorbereitet sind und Auffangstellungen westlich von Awdijiwka gebildet haben, welche eine raumgreifende russische Operation Richtung Westen erschweren.
Verzweifelte Suche auf dem Weltmarkt
tagesschau.de: Für einen Abnutzungskrieg braucht es Munition und Soldaten. Was muss die Ukraine auch auf diesen Gebieten bekommen, um durch ein absehbar schwieriges Jahr 2024 zu kommen?
Remmel: Sie können davon ausgehen, dass die Ukraine in diesem Jahr strategisch in die Defensive gehen muss, auch, weil sie nicht genug Munition hat. Wir wissen, dass aus dem Westen beispielsweise nicht genug Artilleriemunition geliefert wird. Zwar werden die Produktionsraten erhöht, und man versucht verzweifelt, auf dem Weltmarkt Artilleriemunition zu beschaffen. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass die ukrainischen Streitkräfte es schaffen, diesen Krieg der Feuerraten in naher Zukunft auszugleichen.
Die Vorteile der Defensive
tagesschau.de: Und deswegen ist es sinnvoll, in die Defensive zu gehen?
Remmel: Wenn Sie militärisch defensiv agieren, brauchen Sie weniger Personal und weniger Material, weil sie sich nicht aktiv taktisch bewegen, kein neu erobertes Gelände mit zusätzlichen Kräften halten müssen und ihre Bewegungen nicht mit Feuer vorbereiten müssen. Deswegen ist es sinnvoll, in Anbetracht der gegenwärtigen personellen und materiellen Lage, zumindest so lange in der Defensive zu bleiben, bis sich die Situation, was Munition angeht, wieder verbessert hat. Dies ermöglicht zudem, lange im Kampf stehende Verbände aus der Front rotieren zu lassen, sie auszubilden und mit besserem Gerät auszustatten.
Derzeit haben die Russen eine Feuerraten-Überlegenheit von eins zu fünf, eins zu sechs. Das werden die Ukrainer perspektivisch nie ganz ausgleichen können. Deswegen müssen die Ukrainer, um wieder in die Initiative zu kommen, eine Wirkungsüberlegenheit herstellen. Sie müssen also in der Lage sein, vor allem mit ihren Distanzwaffen, schneller und besser zu treffen als die Russen.
Der zweite wichtige Aspekt, um die personelle Unterlegenheit auszugleichen, ist eine umfassende Technologieüberlegenheit. Die Ukrainer benötigen Waffensysteme, die größere effektive Kampfentfernungen als die der Russen haben und gleichzeitig ihre Besatzungen effektiv schützen, sodass sie, selbst im Fall einer Zerstörung des Gefechtsfahrzeuges, erneut eingesetzt werden können. Sie wollen und können nicht für jede Eroberung einer Kleinstadt zehntausende Männer verheizen, so wie es die Russen machen, sondern sie müssen mit überlegenen Waffensystemen versuchen, auf taktischer Ebene örtliche Überlegenheiten zu erzwingen, die dann in Durchbrüchen resultieren.
Der langfristig entscheidende dritte Punkt ist die Etablierung einer ukrainischen Führungsüberlegenheit. Das heißt, mit überlegenen Führungsstrukturen in der Lage zu sein, mit fähigen Stäben auf dem Gefechtsfeld eine Lage schneller beurteilen zu können als der Gegner, dann eine richtige Entscheidung zu treffen und diese schneller umzusetzen als die russische Gegenseite. Denn das sind die Schwachpunkte der Russen. Sie haben keine großen Mengen an Präzisionswaffen, keine Hochtechnologie und keine gut ausgebildeten Führungsstäbe. Sie zeichnen sich eher durch die Überlegenheit an Feuerraten und ein langsames Operationstempo aus.
Schraffiert: von Russland besetzte Gebiete
"Damit gewinnt man diesen Krieg nicht"
tagesschau.de: Die EU will zumindest bis Ende des Jahres die versprochene eine Millionen Stück Artilleriemunition bereitstellen.
Remmel: Hier muss ich in aller Deutlichkeit sagen: Mit einer zusätzlichen Million Schuss Artilleriemunition gewinnt man diesen Krieg nicht. Sie waren ja schon zum Frühling versprochen. Es ist für den ukrainischen Generalstab ein riesiges Problem, wenn er mit einer Million Schuss kalkuliert und dann nur irgendwas zwischen 300.000 und 500.000 bekommt. Das hat auch eine strategische Dimension, weil sich der ukrainische Generalstab offensichtlich nicht auf das Wort verlassen kann, das der Westen gegeben hat.
Die russische Armee verschießt heute pro Tag ungefähr 10.000 Schuss Munition. Sie können also hochrechnen, wie lange eine Million Schuss ausreichen, nur um die russische Feuerrate auszugleichen. Das sind weniger als drei Monate. Und in dieser Zeit werden sie diesen Krieg nicht gewinnen. Deswegen sind aus meiner Sicht auch Wirkungstechnologie- und Führungsüberlegenheit entscheidender und auch mittelfristig realistischer umzusetzen als eine Umkehr der Feuerüberlegenheiten.
tagesschau.de: Wie zuversichtlich sind Sie, dass die hergestellt werden kann?
Remmel: Das ist eine politische Frage. Nach der Münchner Sicherheitskonferenz gibt es wieder neue Bemühungen. Die entscheidende Frage ist: Schafft es der Westen in einem politischen Konsens, die Ukraine mit allem zu unterstützen, was sie braucht? In dieser Frage bin ich zwar skeptisch, habe aber doch Hoffnung.
Welchen Unterschied die Taurus-Raketen machen würden
tagesschau.de: Auf der Münchner Sicherheitskonferenz hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf mehr Anstrengungen des Westens gedrängt. In der Debatte hierzulande geht es derzeit vor allem um die Lieferung von "Taurus"-Marschflugkörpern. Welchen strategischen Vorteil würde das der Ukraine verschaffen?
Remmel: Grundsätzlich gilt: Kein einzelnes Waffensystem wird über den Ausgang des Krieges bestimmen, auch der "Taurus"-Marschflugkörper nicht. Gleichwohl ist er für die ukrainischen Streitkräfte von großem Wert, weil er im Vergleich zu den anderen gelieferten Marschflugkörpern eine hohe Durchschlagskraft besitzt. Er eignet sich also neben dem Angriff auf Versorgungslinien und Kommandoposten außerhalb der Reichweite von Artillerie besonders, um Ziele zu bekämpfen, welche besonders robust gebaut sind.
Ursprünglich für die Bekämpfung von Bunkeranlagen konzipiert, würde sich der "Taurus" beispielsweise eignen, um die Brücke von Kertsch zu zerstören. Sie verbindet die für Russland so wichtige Krim mit dem russischen Festland und wäre bei einem erfolgreichen ukrainischen Vorstoß in den Raum Melitopol-Berdjansk die einzige verbleibende Versorgungsroute. Mit einem solchen Szenario würde man Putin vor ein strategisches Dilemma stellen, aber: An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass der Taurus allein einen solchen Zustand nicht erzwingen kann.
Funktioniert "Boiling the frog"?
tagesschau.de: In Teilen des Westens gibt es aber die Frage, was eine Niederlage Russlands für die Stabilität des Landes bedeuten würde. Welche Rolle spielt das bei der Unterstützung der Ukraine?
Remmel: Ich glaube, diese Sorge ist zumindest in Teilen berechtigt und vor allem in den USA relativ ausgeprägt, letztlich aber Spekulation. Die USA wollen unter allen Umständen vermeiden, dass dieser Konflikt konventionell oder nuklear auf das NATO-Bündnisgebiet eskaliert. Es würde automatisch nach Artikel 5 den Bündnisfall auslösen und die USA dazu zwingen, ihren strategischen Schwerpunkt, der jetzt im asiatisch-pazifischen Raum liegt, wieder auf den europäischen Kontinent umzulenken.
Ein möglicher US-amerikanischer Ansatz könnte sein, der Ukraine nur begrenzt Militärhilfe zu gewähren, um den Russen nicht den Schock einer katastrophalen militärischen Niederlage zuzufügen, und ihnen aber doch zu signalisieren, dass sie ihre strategischen Ziele militärisch nicht erreichen können. Ein solcher Ansatz wird auch als "Boiling the Frog" beschrieben. Im übertragenen Sinne bedeutet das: Ich setze einen Frosch in einen Topf mit Wasser und erhöhe langsam die Temperatur. Dadurch merkt der Frosch nicht, dass er abgekocht wird und springt nicht aus dem Topf. Mit dieser Strategie könnte verhindert werden, dass die Russen ihre Eskalationsüberlegenheit gegenüber der Ukraine ausspielen.
Eine grundlegende und in Deutschland kaum diskutierte strategische Frage in diesem Zusammenhang ist: Was ist das geostrategische Endszenario dieses Krieges? Akzeptiert Putin überhaupt eine militärische Niederlage? Darüber wird relativ selten gesprochen. Stattdessen fokussiert man sich in der Berichterstattung auf strategisch nahezu unbedeutende Geländegewinne beziehungsweise -verluste von wenigen Kilometern. Öffentlich haben auch die Amerikaner noch nicht klar benannt, welches Szenario bei Kriegsende herrschen sollte. Und auch in europäischen Staaten wird diese Diskussion so nicht geführt.
Wir reden immer darüber, dass wir Unterstützungsleistungen erbringen müssen, damit die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Aber was bedeutet dieses Gewinnen konkret? Die Ukrainer sind da klar und sagen: Wir wollen die Grenzen von 1991 zurück, also einschließlich der Krim. Aber was passiert, wenn das nicht klappt? Und warum wird nicht seitens des Westens alles dafür getan, dass die Ukraine ihr Ziel erreichen kann? Um Hunderttausende russische Soldaten von der Krim und der Ostukraine zu vertreiben, braucht es bedeutend größerer Anstrengungen aus dem Westen. Auch darf nicht vergessen werden: Im Falle eines ukrainischen Erfolges gibt es keine Garantie dafür, dass Putin oder sein Nachfolger es nicht erneut versuchen. Die Ukraine wird also auch nach einem Kriegsende nachhaltig auf militärische, diplomatische und ökonomische Unterstützung aus dem Westen angewiesen sein.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de