Widerstand der Tibeter gegen China Was passiert, wenn der Dalai Lama die Kontrolle verliert?
Drohungen, Misshandlungen und Verhaftungen - auch 50 Jahre nach der Niederschlagung des Tibeter-Aufstandes reagiert China mit Gewalt auf Widerstand. Nun droht eine Radikalisierung der jungen Tibeter-Generation. Deshalb wäre ein ehrlicher Dialog zwischen beiden Seiten umso wichtiger, sagt ARD-Korrespondent Jochen Graebert im Interview mit tagesschau.de. Holzschnittartige Propaganda und Zensur schade den Chinesen selbst.
tagesschau.de: Herr Graebert, seit Anfang Februar dürfen Ausländer nicht mehr in die Unruhegebiete von Tibet. Wie gelangen Sie an Informationen?
Jochen Graebert: Wir erhalten Aussagen von Menschen vor Ort, die teils selbst betroffen sind und von anderen, die reinen Beobachterstatus haben. Die Informationen, die wir bekommen, sind sehr authentisch und aus Gebieten, die derzeit wieder relativ unruhig sind. Aber wir haben keinen Gesamtüberblick über Tibet.
tagesschau.de: Was wissen Sie über die momentane Lage in Tibet?
Graebert: Während des chinesischen Neujahrsfestes vor zwei Wochen hat es an einigen Orten Demonstrationen gegeben und auch Verhaftungen sowie Misshandlungen. Nach unserem Informationsstand haben sich die Proteste aber nicht zu einem Aufstand in ganz Tibet und den angrenzenden Provinzen ausgeweitet.
tagesschau.de: Ist dies auf die massive Präsenz von Sicherheitskräften zurückzuführen?
Graebert: Das sagen viele Leute. Allein das Drohpotenzial der chinesischen Behörden trägt erheblich dazu bei, dass die Leute Angst haben. Aber um exakt zu sagen, warum es diesmal ruhiger ist, haben wir zu wenige zusammenhängende Informationen.
Arrangierte Aussagen von tibetischen Mönchen
tagesschau.de: In einem "Weltspiegel"-Beitrag von Ihnen ist ein Mönch zu sehen, der sich vor einem Jahr sehr kritisch vor ausländischen Journalisten geäußert hat und dieses Jahr vor Journalisten erklärt, er habe keine Angst und er sei nicht im Gefängnis gewesen. Wie schätzen Sie diese Aussage ein?
Graebert: Das Gespräch war regelrecht arrangiert. Es war der einzige richtige Mönch, mit dem die Journalisten dort sprechen durften. Es deutet sehr viel darauf hin, dass er unter enormem Druck gestanden hat, nicht nur durch politischen Unterricht und Maßnahmen, die mit mehr Zwang verbunden waren, sondern möglicherweise - was in China gängige Praxis ist - mit Drohungen. Aber das kann ich nicht beweisen.
Drakonische Herrschaftsmethoden in Tibet
tagesschau.de: In Ihrem Beitrag zeigen Sie auch eine Tibet-Ausstellung in Peking, die belegen soll, dass die Chinesen Menschenrechte und Modernisierung nach Tibet gebracht haben. Wie ist dies zu bewerten?
Graebert: Natürlich war das alte Tibet unter dem Dalai Lama ein feudaler Gottesstaat mit drakonischen Herrschaftsmethoden. Es gab Sklaverei und Leibeigenschaft. In den 40er Jahren haben US-Journalisten vom Magazin "Time" erlebt, wie Straftätern die Ohren und Nasen abgeschnitten werden sollten. Sie schafften es, dass diese Urteile in 250 Peitschenhiebe umgewandelt wurden. Es ist völlig unbestritten, dass das alte Tibet kein Paradies war.
Das Problem ist, dass die chinesische Propaganda dies holzschnittartig wendet. Sie sagt: Die Tibeter sind jetzt glücklich, weil wir ihnen Fortschritt, Elektrizität und feste Behausungen gebracht haben, die sie als Nomaden im übrigen gar nicht wollten. Sie haben uns von Anfang an begrüßt und sind dankbar, dass sie am Fortschritt teilhaben können. Hinter dem Aufstand, das wurde wörtlich so gesagt, steckten antichinesische, westliche Kräfte und der Dalai Lama, um die Leibeigenschaft und den Gottesstaat wieder einzuführen.
tagesschau.de: Was sind die Folgen?
Graebert: Diese holzschnittartige Propaganda und die Reduzierung des Konflikts auf radikale Kräfte um den Dalai Lama verhindern auf Dauer jede Konfliktlösung und jedes Verständnis zwischen Chinesen und Tibetern.
Die Tibeter vergleichen sich auch mit den vielen Chinesen, die nach Tibet gekommen sind. Die Mehrheit der Bevölkerung in Lhasa ist ja mittlerweile chinesisch. Da sind die Tibeter ganz unten auf der Skala der Einkommen und auf der sozialen Leiter. Insofern lässt sich die Frage, ob sich die Tibeter unter chinesischer Herrschaft wohlfühlen, nicht einfach auf die Zustände vor 60 oder 70 Jahren zurückführen.
"An diesem Tag waren die Chinesen die Opfer"
tagesschau.de: Vom Aufstand vor einem Jahr sind auch die Bilder in Erinnerung geblieben, wie Tibeter in Lhasa Chinesen angreifen und randalieren. Wie ist dies einzuordnen?
Graebert: Nach allem, was wir wissen, hat es zunächst Mönchsproteste und Verhaftungen gegeben. Der schon vorhandene Druck wurde noch einmal verstärkt durch den relativ engen Zugriff von Polizisten und Sicherheitskräften auf die zunächst friedlich demonstrierenden Mönche. Dann explodierte am 14. März 2008 die Lage und der Mob auf der Straße fing an, Häuser anzuzünden und Hetzjagd auf Chinesen zu machen. An diesem Tag waren die Chinesen die Opfer.
Als am 14. März 2008 in Lhasa wütende Tibeter Chinesen angriffen, waren keine Sicherheitskräfte vor Ort.
tagesschau.de: Wie hat die Polizei reagiert?
Graebert: Es hat über Stunden kaum Sicherheitskräfte in der Stadt gegeben. Wir hatten ja Augenzeugen, die uns stündlich berichteten. Wir waren völlig fassungslos, dass sich die wenigen Sicherheitskräfte auch noch zurückgezogen haben. Ich will das nicht weiter bewerten. Vielleicht waren sie ja zu schwach, vielleicht haben sie ja nicht damit gerechnet. Dass die Situation explodiert und in brutale Gewalt umschlägt, ist aber nicht ungewöhnlich für solche angespannten Situationen.
Am Ende könnten Bomben gezündet werden
tagesschau.de: Erwarten Sie, dass sich die junge Generation vor allem im Exil vom Weg des Dalai Lama abwendet, sich radikalisiert und wieder Unabhängigkeit fordert?
Graebert: Man kann natürlich nicht in die Köpfe der Menschen hineinsehen. Aber sehr bezeichnend finde ich, dass genau dies im vergangenen Jahr thematisiert wurde von 40 sehr mutigen chinesischen Intellektuellen. Sie sagten der Regierung: Wenn ihr ständig an der Gewaltschraube mit- und weiterdreht und keinen Dialog sucht mit den Tibetern sowohl in Tibet als auch mit dem Dalai Lama, dann wird sich das immer weiter radikalisieren. Am Ende werden Bomben gezündet wie anderswo in der Welt.
Die Gefahr ist, dass die jüngere Generation viel radikaler und aggressiver vorgeht, wenn der Dalai Lama nicht mehr da oder nicht mehr handlungsfähig ist. Man kennt das ja aus vielen Konfliktherden der Erde, dass die Menschen am Ende glauben, dass sie mit Gewalt weiterkommen als ohne.
tagesschau.de: Gibt es Anzeichen für eine Radikalisierung?
Graebert: Ja klar. Der Jugendverband und andere Kräfte unter den Exiltibetern thematisieren das ganz offen. Sie plädieren für Gewaltlösungen. Sie beklagen, sie seien die "Pandabären der Welt". Wenn etwas passiere, würden sie bedauert, aber keiner tue etwas für sie. Diese Stimmung ist unter den Exiltibetern weit verbreitet. Die Mehrheit der Tibeter in Tibet selbst, davon bin ich nach meinen Reisen dorthin überzeugt, will das nicht. Aber wenn sich die Situation wie im vergangenen Jahr verschärft und es zu Eskalationen kommt, dann kann sich so etwas sehr schnell verselbstständigen.
Internationale Unterstützung undenkbar
tagesschau.de: Ist zu erwarten, dass die Tibeter angesichts der weltweiten Lage und der Wirtschaftsmacht Chinas sich allein überlassen werden?
Graebert: Man kann es so formulieren und man kann auch sagen, dass es eine Tragödie ist. Aber man muss realistisch sein: Es ist unausweichlich. Die Tibeter sollten sich nicht auf Hilfe von außen verlassen. Das Ausland sollte weiter auf China einwirken, um einen ehrlichen Dialog mit den Tibetern in Gang zu setzen.
Aber ausländische Unterstützung bei einem Schritt in Richtung Unabhängigkeit und Separatismus ist undenkbar. Ich glaube, auch den Tibetern wäre nicht damit geholfen. Man muss einfach anerkennen, dass territoriale Integrität von Staaten zunächst unantastbar ist. Erst als allerletzte Möglichkeit, wenn gar nichts anderes mehr geht, kann man das diskutieren.
Was, wenn der Dalai Lama die Kontrolle verliert?
tagesschau.de: Was sollte die chinesische Regierung tun?
Graebert: Man muss sehen, dass es für die chinesische Regierung nicht einfach ist, Entscheidungen zu treffen, etwa mit dem Dalai Lama einen Dialog in Gang zu setzen und ihn dann zum Beispiel nach Tibet zu holen. Es kann niemand garantieren, dass die Lage dann nicht außer Kontrolle gerät und sich der Prozess dann plötzlich so verselbstständigt, dass auch der Dalai Lama nicht mehr Herr der Entwicklung ist.
Dann, das ist wirklich ein Problem, ist sich die chinesische Regierung nicht sicher, wie das Ausland reagieren wird. Da kann sehr schnell das Selbstbestimmungsrecht für die Tibeter eingefordert werden. Davor hat die chinesische Regierung natürlich Angst und die ist auch nicht ganz unberechtigt.
tagesschau.de: Was ist zum Umgang der chinesischen Regierung mit den ausländischen Medien zu sagen?
Graebert: Es hilft China nicht, wenn es den ausländischen Journalisten den Zugang zu den Unruhegebieten versperrt. Es nährt nur den Verdacht, dass es etwas zu verbergen gibt. Während des Aufstandes im vergangenen Jahr waren die verbliebenen ausländischen Journalisten die Einzigen, die wirklich objektive Informationen über die Lage liefern konnten.
Das Gespräch führte Silvia Stöber, tagesschau.de