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Europawahl 2024

Abgeordnete im Europaparlament.
analyse

Vor der Europawahl Ist die EU undemokratisch?

Stand: 08.06.2024 15:43 Uhr

Die Mitglieder der EU-Organe werden entweder direkt gewählt oder von den nationalen Regierungen nach Brüssel geschickt. Die Union hat zwar Schönheitsfehler - aber ist sie deshalb auch undemokratisch?

Die Wege der EU-Gesetze sind unergründlich. Zumindest manchmal. Es ist in der Tat nicht immer einfach, den Überblick zu behalten, wie die Europäische Union zu ihren Entscheidungen kommt.

Hat der Ministerrat sich nur in Detailfragen geeinigt oder einen Durchbruch erzielt? Ist eine Abstimmung im federführenden Fachausschuss des EU-Parlamentes wichtiger als die Abstimmung im Straßburger Plenum?

Ein häufiger Vorwurf

Qualifizierte Mehrheit, Komitologie, Passerelle-Klausel - auch wer lange dabei ist, schaut gelegentlich in die EU-Verträge. Das System ist kompliziert, die Institutionen sind nicht jedem geläufig. Der Vorwurf, die EU sei nicht demokratisch, wird regelmäßig diskutiert.

Besonders scharf klingt das Urteil der AfD. Es handele sich bei der Europäischen Union um ein "undemokratisches Konstrukt", "das immer mehr Gewalt an sich zieht und von einer intransparenten, nicht kontrollierbaren Bürokratie regiert wird". So schreibt es die Partei jedenfalls im aktuellen Programm zur Europawahl.

Doch wie sieht es bei den EU-Institutionen in der Praxis aus?

Parlament ohne eigenes Parteiensystem

Da ist zunächst das Europäische Parlament. Das wird demokratisch gewählt. Jedoch gibt es Unterschiede in den 27 Mitgliedstaaten bei der Zahl der Einwohner, die ein Abgeordneter jeweils vertritt.

Während ein Parlamentarier aus Malta mehr als 82.000 Einwohner vertritt, sind es bei einem Abgeordneten aus Deutschland mehr als 864.000. Würde man das ausgleichen, hätten kleine Länder nur einen einzigen Abgeordneten oder das Parlament wäre riesengroß und teurer.

Außerdem fehlt der EU ein eigenes Parteiensystem. Wähler können bei der Wahl ihr Kreuz nicht bei jeder beliebigen europäischen Gruppierung machen, sondern nur bei den jeweils nationalen Parteien.

Nur Kommission kann Gesetze auf den Weg bringen

Die EU-Kommission ist die Exekutive im System, also eine Art Regierung. Um Präsidentin oder Präsident zu werden, gilt es zwei Hürden zu nehmen. Zunächst machen die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, die jeweils demokratisch gewählt sind, einen Vorschlag. Dem müssen dann auch die Abgeordneten des Parlamentes zustimmen.

Die 26 weiteren Kommissare werden jeweils von ihren Heimatländern geschickt. Das Land, das den Präsidenten stellt, bekommt keinen zusätzlichen Kommissar-Posten. Bevor das Kabinett jedoch an die Arbeit gehen kann, müssen sich alle Anwärter einer intensiven, öffentlichen Befragung durch das Parlament unterziehen. Dabei können sie auch durchfallen.

Mithilfe Tausender Beamter machen die Kommissare später Vorschläge für Richtlinien und Verordnungen. Die Kommission kann die aber nicht einfach so erlassen. Parlament und Mitgliedstaaten müssen darüber zuvor entscheiden.

Dass nur die EU-Kommission Gesetzesvorhaben auf den Weg bringen kann, ist eine viel diskutierte Einschränkung im legislativen Prozess. Der frühere Verfassungsrichter Dieter Grimm bezeichnet das fehlende Initiativrecht von Rat und Parlament als Anachronismus: "Sie sind daran gebunden, dass die Kommission aktiv wird."

Mitgliedstaaten müssen zustimmen

Im Ministerrat treffen sich die jeweiligen Fachminister der EU-Länder. In wichtigen Fragen wie der Außenpolitik können sie nur einstimmig entscheiden. Das sichert die grundsätzlichen Interessen jedes einzelnen Landes, egal wie groß oder klein es ist.

Für die meisten anderen Verordnungen und Richtlinien ist eine Mehrheit von 55 Prozent der Mitgliedstaaten nötig, die zusammen mindestens 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren müssen. Zudem muss das Parlament mehrheitlich zustimmen.

Demokratisch mit Schönheitsfehlern

Unter dem Strich könnte man die EU demokratisch mit Schönheitsfehlern bezeichnen. Das Parlament wird gewählt. Dass dabei nicht jede Stimme gleich viel Gewicht hat, sichert den Bürgern von kleineren Ländern Einfluss. Kommission und Ministerrat werden nicht direkt gewählt. Jedoch werden deren Entscheidungsträger von den nationalen Regierungen geschickt, die wiederum demokratisch legitimiert sind.

Die EU sei ein demokratisches System, auch wenn es Verbesserungsmöglichkeiten gebe, sagt Thu Nguyen vom Forschungsinstitut Jacques Delors Centre im Gespräch mit dem ARD-Studio Brüssel. Sie kommt zum Fazit: "Die EU ist komplizierter als nationale Systeme. Aber dennoch sind Rat, Parlament und Kommission direkt oder indirekt demokratisch gewählt."

Trotzdem kann es passieren, dass Abgeordnete nicht im Interesse ihrer Wählerinnen und Wähler handeln, sondern aus egoistischen Motiven. Wenn das geschieht, ist aber nicht die europäische Demokratie das Problem, sondern menschliches Fehlverhalten.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 08. Juni 2024 um 16:00 Uhr.