Krieg in der Ukraine Westen hat Waffenstillstand nicht verhindert
Im Netz hält sich das Gerücht, die USA und Großbritannien hätten einen bereits ausgehandelten Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine torpediert. Doch der ehemalige israelische Premier hat das so nie gesagt.
"Israelischer Ex-Premier Bennett: 'USA und Großbritannien haben Friedensgespräche blockiert" - Solche und ähnliche Vorwürfe gehen seit Tagen durch das Netz. Auch Medien und Politiker verbreiten weltweit die These, ohne Großbritannien und die USA sei ein Waffenstillstand zwischen der Ukraine und Russland längst hergestellt worden.
Grundlage dafür ist ein fast fünfstündiges Interview des ehemaligen israelischen Premierministers Naftali Bennett mit dem israelischen Journalisten Hanoch Daum. Darin berichtet er unter anderem ausführlich über sein damaliges Bemühen, Russland und die Ukraine von Verhandlungen zu überzeugen.
Dieser Part des Interviews schlug hohe Wellen. Gregor Gysi von der Linkspartei beispielsweise schrieb auf Twitter, dass es laut Bennett "sehr schnell nach Kriegsbeginn zu einem Waffenstillstand" gekommen wäre, hätten Großbritannien und die USA die Übereinkunft akzeptiert. Aber stimmt das?
Bennett vermittelte zwischen Putin und Selenskyj
In dem Interview berichtet Bennett, wie er überhaupt zum Mediator zwischen Russlands Präsidenten Wladimir Putin und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj wurde. Kaum jemand habe so ein Vertrauensverhältnis zu beiden Seiten gehabt, sagt er, mit Abstrichen noch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. Denn er habe sich nach Beginn der russischen Invasion auf keine der beiden Seiten gestellt.
Selenskyj, der in den ersten Wochen der Invasion stark in Bedrängnis gekommen sei, habe Bennett Anfang März angerufen und ihn gebeten, Kontakt zu Putin aufzunehmen. "Er wusste, dass seine Tage gezählt waren", sagt Bennett. Putin habe ihn töten wollen. Also habe Bennett Putin angerufen und versucht, beide Seiten zu Zugeständnissen zu bringen, um einen Waffenstillstand auszuhandeln. Alles sei mit den westlichen Staatschefs wie dem US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden oder Bundeskanzler Olaf Scholz koordiniert gewesen.
Eigenen Angaben zufolge gelang es Bennett, Putin "zwei große Zugeständnisse" abzuringen. Zum einen soll der russische Präsident versprochen haben, auf die "Denazifizierung" der Ukraine zu verzichten und auch darauf, Selenskyj zu töten. Zum anderen sei Putin bereit gewesen, auf eine vollständige Entmilitarisierung der Ukraine zu verzichten. Selenskyj wiederum habe Bennett zugesichert, auf einen NATO-Beitritt zu verzichten.
Chancen auf Waffenstillstand bei "50 Prozent"
Allerdings seien die wirklich komplizierten Themen damit nicht geklärt worden. "Die komplizierteste Sache war die territoriale Frage, der Donbass, die Krim, der Korridor in Mariupol", sagt Bennett. Hinzu käme, dass die Ukraine auf Sicherheitsgarantien von den USA und weiteren westlichen Staaten gepocht habe, im Fall eines russischen Verstoßes gegen die Waffenruhe. Für Russland wären solche Sicherheitsgarantien jedoch nichts anderes gewesen als ein Pakt mit der NATO. Zudem habe Bennett zu Selenskyj gesagt, dass die USA keine Garantien geben würden, Soldaten in die Ukraine zu entsenden, sollte Russland doch angreifen.
"Du wirst keine Sicherheitsgarantien bekommen", habe Bennett daher zu Selenskyj gesagt und ihm stattdessen vorgeschlagen, sich auf den Aufbau einer starken, unabhängigen Armee zu konzentrieren. Daraufhin sei es laut Bennett zu einem "kognitiven Durchbruch" der Verhandlungen gekommen. Allerdings betont er, dass er die Chancen auf einen tatsächlichen Waffenstillstand zwischen der Ukraine und Russland selbst nur bei 50 Prozent sah.
Nach Gräueltaten von Butscha: "Es ist vorbei"
Hinzu sei gekommen, dass es im Westen unterschiedliche Ansichten hinsichtlich des Vorgehens gab. Während Scholz und auch Frankreichs Präsident Macron "mehr pragmatisch" gewesen seien und auf einen Waffenstillstand gedrängt hätten, sei Großbritanniens damaliger Premierminister Boris Johnson für einen harten Kurs gegen Putin gewesen. Biden habe beide Positionen vertreten, sagt Bennett. Insgesamt habe der Westen die "legitime Entscheidung" getroffen, den härteren Kurs gegen Putin zu verfolgen. Auf die Nachfrage des Journalisten, ob der Westen den möglichen Waffenstillstand blockiert hätte, antwortet Bennett: "Grundsätzlich ja."
"Ich kann nicht sagen, dass sie falsch lagen", sagt Bennett. Es sei noch zu früh, um diese Entscheidung abschließend zu bewerten. Aus seiner Sicht gab es sowohl negative Auswirkungen als auch positive. So sei der Krieg weitergegangen, was unter anderem negative Auswirkungen auf die globale Getreideversorgung und die Energiekosten gehabt habe. Andererseits habe Biden eine Allianz gegen einen Aggressor geformt und damit auch ein Zeichen gesetzt mit Blick auf andere Spannungen wie zwischen China und Taiwan.
Zudem seien wenige Wochen später die Gräueltaten von Butscha bekannt geworden, die die russische Armee im Kiewer Vorort verübt hatten. "Als das passierte, sagte ich: 'Es ist vorbei'", so Bennett. Verhandlungen über einen Waffenstillstand seien ab dem Zeitpunkt nicht mehr möglich gewesen.
"Unklar, ob es überhaupt einen Deal gab"
Bei Twitter meldete sich Bennett nach Veröffentlichung des Videos noch einmal zu Wort. Auf den Tweet des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Ivan Katchanovski, der schrieb, dass "westliche Führer das Friedensabkommen" blockiert hätten, antwortete Bennett:
Es ist unklar, ob es überhaupt einen Deal gab, der gemacht werden konnte. Zu der Zeit hab ich dem Ganzen etwa eine 50-prozentige Chance gegeben. Die US-Amerikaner schätzten die Chancen deutlich geringer ein. Schwer zu sagen, wer Recht hatte.
Zudem sei er nicht sicher, ob ein solcher Deal überhaupt wünschenswert gewesen wäre, so Bennett weiter. Er sehe für jeden Ansatz Vor- und Nachteile.
Erkenntnisse nicht neu
Dass es zwischen der Ukraine und Russland im März des vergangenen Jahres Verhandlungen über einen Waffenstillstand gab, ist bekannt. Denn neben den Anstrengungen von Bennett gab es auch ganz offizielle Verhandlungen zwischen den beiden Ländern. Auch dort gab es bereits einige Fortschritte, insgesamt wurden die Chancen auf einen erfolgreichen Abschluss jedoch ebenfalls als gering angesehen. So soll die Ukraine bereit gewesen sein, eine mögliche Neutralität "gründlich zu prüfen" und auf einen NATO-Beitritt zu verzichten.
Russland wiederum soll die Zusicherung gemacht haben, sich aus Teilen der Ukraine zurückzuziehen und sich auf den Osten des Landes zu konzentrieren. Konkrete Ergebnisse gab es jedoch nicht. Zudem gab es in den Wochen darauf keine weiteren Gespräche, beide Seiten warfen sich gegenseitig vor, in der Bringschuld zu sein. Zudem zweifelte die Ukraine an, dass Russland auch tatsächlich Truppen abziehen würde. Kurz darauf wurden die mutmaßlich von russischen Soldaten begangenen Kriegsverbrechen bekannt und die Gespräche kamen ganz zum Erliegen.
Schon damals hatten einige Politiker wie Sahra Wagenknecht die falsche Behauptung aufgestellt, die Verhandlungen seien lediglich an dem Veto Großbritanniens und der USA gescheitert.