ARD-DeutschlandTrend Das Superwahljahr der Nichtwähler
Mit sieben Landtagswahlen wird 2011 ein "Superwahljahr". Laut ARD-DeutschlandTrend könnte es aber eher das Jahr der Nichtwähler werden. Viele Deutsche blicken beunruhigt ins kommende Jahr. Wie ist die politische Stimmung? Und wie denken die Bürger über WikiLeaks und die "S21"-Schlichtung?
Von Jörg Schönenborn, WDR
Der Begriff "Superwahljahr" ist ja schon ein bisschen abgegriffen, aber für 2011 trifft er zu: Sieben Landtage werden im kommenden Jahr neu gewählt. Und am Vorabend dieses Wahljahres ist die Ausgangssituation spannend. Der Höhenflug der Grünen ist zwar vorerst beendet, aber sie bleiben stabil über 20 Prozent. Eine schwarz-grüne Koalition ist nach den gegenseitigen Attacken von CDU und Grünen in den letzten Wochen und nach dem Bruch des Bündnisses in Hamburg nur noch für wenige Wähler eine wirkliche Verlockung. Und trotzdem trauen viele den Grünen auch höchste politische Führungsaufgaben zu: Im aktuellen ARD-DeutschlandTrend sagen 50 Prozent der Befragten, sie fänden es gut, wenn demnächst auch einmal ein grüner Regierungschef oder eine -chefin ein Bundesland führen würde, 47 Prozent sehen das nicht so.
Rot-Grün liegt bei Sonntagsfrage weiterhin vorn
Seit Mitte Oktober gibt es im ARD-DeutschlandTrend in der bundesweiten Sonntagsfrage eine theoretische rot-grüne Mehrheit. Die ist zwar diese Woche ein bisschen knapper geworden, aber noch hält sie: Die SPD bleibt unverändert bei 27 Prozent, die Grünen verlieren gegenüber November einen Punkt und stehen nun bei 21 Prozent. Zusammen genommen ist das immer noch ein Punkt mehr, als die anderen Bundestagsfraktionen zusammen auf die Waage bringen. Die Union ist stabil bei 32 Prozent, die Linkspartei gewinnt einen Punkt hinzu auf zehn Prozent und die FDP verharrt seit Monaten bei fünf Prozent. Befragt wurden auch diese Woche wieder 1500 Wahlberechtigte, die Infratest dimap repräsentativ ausgewählt hat.
Das politische Jahr 2010 begann vor allem mit großen Enttäuschungen für die Anhänger der schwarz-gelben Bundesregierung. Im Frühjahr erschien Schwarz-Grün deshalb vielen als die bessere Alternative. Heute glaubt nicht einmal mehr jeder Dritte, "Schwarz-Grün könnte das Land in wichtigen politischen Fragen nach vorn bringen" (31 Prozent, minus 9 gegenüber April). Nur noch 28 Prozent fänden es gut, wenn es in den Ländern mehr schwarz-grüne Koalitionen gäbe (minus 9) und gerade noch 15 Prozent finden, "Union und Grüne passen gut zusammen" (minus 11).
Die scharfen Angriffe von Angela Merkel und anderen Unionsspitzenpolitikern auf den neuen Hauptgegner Grüne haben also Spuren in der politischen Stimmung hinterlassen. Aber trotzdem sind die Grünen weiterhin für Wähler aus allen politischen Lagern attraktiv. Die Wählerwanderung im Vergleich zur letzten Bundestagswahl zeigt, dass die Partei ihr Zweitstimmenergebnis heute annähernd verdoppeln und rund vier Millionen Stimmen dazu gewinnen könnte. Aber weniger als die Hälfte davon kommt aus dem linken Lager, 1,2 Millionen Stimmen von der SPD und 500.000 Stimmen von der Linkspartei. Von Union und FDP könnten die Grünen jeweils 600.000 Stimmen gewinnen, und sie würden 1,2 Millionen Nichtwähler aktivieren.
CDU mit Abstand stärkste Kraft in Baden-Württemberg
Vor allem diese Fähigkeit, aus allen politischen Anhängerschaften Stimmen abziehen zu können, macht die Grünen in Baden-Württemberg so stark, wo am 27. März der neue Landtag gewählt wird. Im Auftrag des SWR hat Infratest dimap auch dort diese Woche die Wähler befragt und eine eigene Sonntagsfrage erstellt. In Baden-Württemberg ist die CDU mit 39 Prozent mit weitem Abstand stärkste Partei. Ihr jetziger Koalitionspartner FDP muss aber mit fünf Prozent um den Wiedereinzug in den Landtag fürchten. Und beide zusammen sind von der nötigen Mehrheit gegenwärtig ein gutes Stück entfernt. Zweitstärkste Partei sind mit klarem Abstand die Grünen mit 28 Prozent vor der SPD mit 18 Prozent. Die Linkspartei hat mit fünf Prozent Chancen ins Parlament einzuziehen.
Schlichtung wie in Stuttgart ein Modell für die Zukunft
Das derzeit wichtigste Thema in Baden-Württemberg beschäftigt auch die Menschen bundesweit: Die Schlichtung im Streit um den Neubau des Stuttgarter Tiefbahnhofs. Das Ergebnis dieser Schlichtung, nämlich der Weiterbau des Bahnhofsprojekts mit erheblichen Auflagen, findet bundesweit mehr Zustimmung als Ablehnung. 51 Prozent der Befragten finden, dass der Schlichterspruch in die richtige Richtung geht, 32 Prozent halten ihn eher für falsch. Was aber für künftige politische Auseinandersetzungen noch wichtiger sein könnte: 71 Prozent der Befragten empfinden die Stuttgarter Schlichtung als Modell für andere große umstrittene Bauprojekte in Deutschland.
Geißler wieder unter den beliebtesten Politikern
Die Schlichtung ist aber auch ein großer persönlicher Erfolg für den ehemaligen CDU-Politiker Heiner Geißler. Im Feld der wichtigsten deutschen Spitzenpolitiker erreicht er aus dem Stand immerhin die zweitbeste Bewertung. 57 Prozent sind mit seiner politischen Arbeit zufrieden. Besser schneidet nur einer ab: Karl-Theodor zu Guttenberg kann seinen Rekordwert aus dem November halten. Er hat weiterhin 75 Prozent Zustimmung. Auf den Plätzen hinter Geißler folgen SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier mit 56 Prozent und Innenminister Thomas de Maizière mit 53 Prozent, Arbeitsministerin Ursula von der Leyen mit 49 Prozent und Grünen-Fraktionschefin Renate Künast sowie Kanzlerin Angela Merkel mit jeweils 44 Prozent. Weiter unten rangieren SPD-Chef Sigmar Gabriel mit 33 und CSU-Chef Horst Seehofer mit 28 Prozent. Für beide sind das die schlechtesten, bisher im DeutschlandTrend gemessenen Werte. Schlusslicht bleibt auch in diesem Monat Außenminister Guido Westerwelle mit 23 Prozent Zustimmung.
WikiLeaks-Veröffentlichung wird eher kritisch gesehen
Er und andere deutsche Regierungspolitiker waren Gegenstand von diplomatischen Geheimdokumenten, die die Internetplattform WikiLeaks am Montag dieser Woche viel tausendfach veröffentlichte. Die Schadenfreude, die die Deutschen angesichts vieler kritischer Worte über ihre Spitzenpolitiker empfinden, hält sich allerdings sehr in Grenzen. Die Mehrheit, 53 Prozent, kritisiert, dass es eine solche Plattform wie WikiLeaks gibt, die regelmäßig vertrauliche Dokumente im Internet veröffentlicht. Nur 43 Prozent sehen diese Institution positiv. Noch deutlicher ist die Ablehnung im konkreten Fall. Fast zwei Drittel der Befragten, 65 Prozent, finden, vertrauliche Berichte wie jene von US-amerikanischen Diplomaten sollten geheim bleiben. Nur 31 Prozent finden deren Veröffentlichung richtig.
Wer sich in den letzten Tagen durch das Gedränge der Weihnachtsmärkte geschoben hat, der konnte ganz persönlich erfahren, was der DeutschlandTrend diese Woche in Zahlen festhält: Die große Mehrheit der Deutschen lässt sich von den jüngsten Terror-Warnungen nicht beirren. 88 Prozent erklären, sie fühlten sich persönlich eher sicher (plus 5 gegenüber November). Nur 11 Prozent (minus 6) fühlen sich eher unsicher. Eine Minderheit von 27 Prozent gibt an "Große Menschenansammlungen wie etwa auf Weihnachtsmärkten oder in Bahnhöfen" häufiger zu meiden. Immerhin 36 Prozent achten im Alltag "verstärkt auf verdächtig aussehende Personen und Gegenstände". Trotz dieses verbreiteten Gefühls der Sicherheit rechnet die Mehrheit allerdings schon damit, dass auch Deutschland in nächster Zeit Ziel von Anschlägen sein wird. 71 Prozent erwarten das.
Insgesamt ist die politische und gesellschaftliche Stimmung am Ende dieses Jahres 2010 eher gedämpft. Die große Mehrheit registriert, dass es der Wirtschaft besser geht, hat aber trotzdem das Gefühl, persönlich von diesem Aufschwung nicht zu profitieren. Das Vertrauen in die Kompetenz der politischen Parteien ist geringer als noch vor einem Jahr. Gefragt, welche Partei denn am ehesten die wichtigsten Probleme in Deutschland lösen könne, antworten 34 Prozent spontan: "Keine Partei". Die Union mit 31 Prozent und die SPD mit 25 Prozent folgen auf den Plätzen. So wundert es nicht, dass die meisten Menschen eher beunruhigt ins neue Jahr blicken. Nur 39 Prozent sehen die Verhältnisse eher mit Zuversicht, 55 Prozent eher mit Beunruhigung. Wer davon profitiert im bevorstehenden Superwahljahr und wer einen politischen Denkzettel erhält, bleibt dennoch eine offene Frage. Denn nach der Erfahrung der letzten Jahre dürften auch viele der Landtagswahlen des Jahres 2011 von einer Gruppe entschieden werden, die in unseren Statistiken selten auftaucht, von den Nichtwählern. Denn meistens gilt: Je weniger Menschen wählen gehen, desto stärker verschieben sich die Verhältnisse zwischen den Parteien.
Stichprobe: Repräsentative Zufallsauswahl / Randomstichprobe
Erhebungsverfahren: Computergestützte Telefoninterviews (CATI)
Fallzahl: Sonntagsfrage 1500 Befragte, Zusatzfrage "S21" 500 Befragte, alle anderen Fragen 1004 Befragte
Erhebungszeitraum: Sonntagsfrage 29. November bis 01. Dezember 2010, Zusatzfrage "Stuttgart 21" 01. Dezember 2010, alle anderen Fragen 29. bis 30. November 2010
Fehlertoleranz: 1500 Befragte 1,4* bis 3,1** Prozentpunkte, 500 Befragte 1,9* bis 4,4** Prozentpunkte, 1004 Befragte 1,4* bis 3,1** Prozentpunkte
*bei einem Anteilswert von 5% ** bei einem Anteilswert von 50%