Bundeswehrsoldaten im Kampfanzug und mit Gewehr stehen zusammen
analyse

Wehrbericht 2024 Eine ernüchternde Bilanz

Stand: 11.03.2025 11:30 Uhr

Teile des neuen Wehrberichts wirken mit Blick auf Trumps Politik aus der Zeit gefallen. Brisant ist der wachsende Personalmangel. Die Bundeswehr findet zu wenig Nachwuchs und altert zunehmend.

Eine Analyse von Stephan Stuchlik, ARD Berlin

Mehr Soldatinnen und Soldaten, bessere Ausrüstung, bessere Kasernen und das alles schnell: Das sind, kurz zusammengefasst, die Forderungen der Wehrbeauftragten Eva Högl an das Verteidigungsministerium.

Das klingt auf den ersten Blick nicht überraschend, denn sie sagt das jedes Jahr - und sie sagt das jedes Jahr mit Recht. Trotzdem ist der Blick in den diesjährigen Wehrbericht angesichts der Weltlage beunruhigender als sonst: Die Aussicht, dass die darin diagnostizierten Lücken wie in den vergangenen Jahren irgendwie in der NATO - sprich: meist durch die USA - ausgeglichen werden könnten, ist nach Lage der Dinge sehr gering.

"Investitionsbedarf sei 67 Milliarden Euro", Stephan Stuchlick, ARD Berlin, zum Wehrbericht

tagesschau, 11.03.2025 12:00 Uhr

Zeitgeschichte hat Wehrbericht überholt

Auf die USA ist sicherheitspolitisch kein Verlass mehr, das stellen Experten aller Couleur mittlerweile nüchtern fest. So wirkt ein Satz aus der Einleitung des Wehrberichts seltsam anachronistisch. Dort steht: "Die NATO ist und bleibt das Fundament unserer Sicherheit."

Er stammt erkennbar aus dem Stehsatz sicherheitspolitischer Aufsätze und fällt heutzutage unter die Kategorie "Wunschdenken". Hier hat die Zeitgeschichte augenscheinlich den Wehrbericht überholt.

Besorgniserregender Personalstand

Eine Diagnose wie die, dass es in der Bundeswehr zwar "enorme Anstrengungen" in den vergangenen Jahren gegeben habe, "die Ergebnisse jedoch (noch) nicht überall sichtbar, spürbar oder messbar" seien, liest sich anders, wenn man befürchten muss, dass diese Anstrengungen zu gering gewesen sein könnten oder zu spät Erfolg zeitigen werden: "Too little, too late" wäre angesichts der aktuellen Sicherheitslage fatal.

Besorgniserregend, das hat Eva Högl bereits vergangenes Jahr angemahnt, ist vor allem der Personalstand der Bundeswehr. Während Berichte in der Vergangenheit sich viel am Materialstand abarbeiteten, der trotz Sondervermögen in der Bundeswehr immer noch nicht gut aussieht, spricht die Wehrbeauftragte ein Problem an, das die Bundeswehr momentan nicht in den Griff zu bekommen scheint: Es gebe zu wenig Soldatinnen und Soldaten, so ihre Analyse - und die seien zudem zu alt.

Statt von 181.807 Soldatinnen und Soldaten im vergangenen Jahr aufzuwachsen, ist die Stärke der Bundeswehr sogar auf 180.976 gefallen. Von der Zielgröße 203.000 ist man noch weiter entfernt als in der Vergangenheit. Und die Truppe wird immer älter: Das Durchschnittsalter steigt von 33,1 Jahren 2021 auf mittlerweile 34 Jahre.

Freiwillige Rekruten reichen nicht aus

Brisant ist diese Analyse, weil die Bemühungen der Bundeswehr, auf dem Arbeitsmarkt junge Freiwillige für die Truppe zu werben, augenscheinlich trotz vieler Anregungen und Maßnahmen der Task Force Personal in der Bundeswehr nicht den Erfolg zeitigen, den eine wehrfähige Armee bräuchte. So konnte etwa ein Fünftel aller Dienstposten bei Unteroffizierinnen und Unteroffizieren im vergangenen Jahr nicht besetzt werden, zeigt der Wehrbericht. Beinahe zwangsläufig kommen daher aus der Politik die Rufe nach einer Wiedereinsetzung der Wehrpflicht, die etwa die CSU bereits in diesem Jahr durchsetzen will.

Mario Kubina, ARD Berlin, zum Wehrbericht über den Zustand der Bundeswehr

tagesschau24, 11.03.2025 14:00 Uhr

Högl betont auch im Bericht zum wiederholten Mal, sie halte "ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr für Frauen und Männer für sinnvoll". Subtext: Anders als mit Pflicht wird es schwierig, genügend Soldatinnen und Soldaten zu finden. Und natürlich brauche man eine Wehrerfassung, um zu wissen, wen man in welchem Jahrgang ansprechen könne - unabhängig davon, ob als Freiwilligen oder als zukünftigen Rekruten. Das hatte der Verteidigungsminister schon vergangenes Jahr vorgeschlagen, das Gesetz dazu wurde aber nach dem Bruch der Ampelkoalition nicht mehr verabschiedet.

Kritik am Leuchtturmprojekt in Litauen

Eva Högl ist Sozialdemokratin und geht mit dem Verteidigungsminister und Parteigenossen Boris Pistorius eigentlich gnädig um. Aber, wer es lesen will, dem wird nicht entgehen, dass sie das Management seines "Leuchtturmprojekts Zeitenwende", also der Brigade in Litauen, deutlich kritisiert.

Ob man die etwa 5.000 Soldatinnen und Soldaten, die kurz vor der russischen und der belarusischen Grenze dauerhaft stationiert werden sollen, allein aus Freiwilligen rekrutieren könne, wie vom Verteidigungsminister versprochen, sei fraglich, so Högl: "Es wird sich allerdings noch zeigen müssen, ob die Bundeswehr an der Freiwilligkeit der Verlegung nach Litauen festhalten kann."

Und die materielle Ausstattung ist momentan augenscheinlich ebenfalls nicht das, was sie sein sollte, vom "bislang nur langsam voranschreitenden Zulauf von Waffensystemen" ist die Rede und: "Von dem Grundsatz 'Train as you fight' konnte hier im Berichtsjahr keine Rede sein." Das hätte man die vergangenen Jahre im großen Ordner "Erwartbare Probleme der Bundeswehr" abgelegt.

Nur: Die Brigade in Litauen ist ein zentraler Baustein bei der möglichen Abwehr eines russischen Angriffs auf das Baltikum und damit auf die EU. Und wenn jetzt die USA teilweise oder ganz ausfallen, ist die kritische Analyse der Wehrbeauftragten mehr als bedenklich.

1,6 Milliarden für Baumaßnahmen

Natürlich gibt es auch dieses Jahr wieder die "klassischen" Passagen aller Wehrberichte, die plastische Beschreibung von schlimmen hygienischen Zuständen in Kasernen gehört dazu. Dieses Jahr wird etwa die Südpfalz-Kaserne in Germersheim wie folgt beschrieben: "Schimmel in Stuben und Sanitärräumen, Wasserschäden, sowie von den Wänden abblätternder Putz waren allgegenwärtig." Dass viele Rekrutinnen und Rekruten die Ausbildung aufgrund solcher Gegebenheiten abgebrochen hätten, verwundere nicht, heißt es im Bericht.

Immerhin scheint an dieser Front etwas zu passieren: Die Fachkonferenz, die der Verteidigungsminister im Februar 2024 zum Thema "Infrastruktur" einberufen hat, wird ausdrücklich gelobt. Die Bundeswehr habe vergangenes Jahr immerhin 1,6 Milliarden Euro für Baumaßnahmen ausgegeben, heißt es. Der nächste Satz ernüchtert jedoch sofort: Der Gesamtbedarf für Baumaßnahmen betrage immer noch 67 Milliarden Euro. Das darf sich die nächste Bundesregierung in ihr Aufgabenheft schreiben.

Überhaupt ist dem Wehrbericht bereits eine Art Katalog zu entnehmen, wofür zusätzliche Milliarden ausgegeben werden sollten: Manches davon ist selbsterklärend wie die Nachbeschaffung der Waffen, die an die Ukraine ausgegeben wurden. Manches ist eklatant: Wenn im Wehrbericht etwa der Aufbau von Drohnensystemen und die Fähigkeit zur Drohnenabwehr gefordert wird, dann ist das deswegen bemerkenswert, weil es den Geschäftsbereich der Wehrbeauftragten, also der "Anwältin der Soldaten", eigentlich nur am Rande betrifft.

Appell, sich den Krieg in der Ukraine genau anzusehen

Und es gibt noch eine bemerkenswerte Passage: Die Auswertung der Kriegsführung in der Ukraine beinhaltete Lehren, die das "gesamte Fähigkeitsspektrum der Bundeswehr" beträfen, heißt es an anderer Stelle. Das darf man durchaus als Appell lesen, sich den aktuellen Krieg auf dem europäischen Kontinent genau anzusehen, und möglicherweise Konzepte zu ändern und Bestellungen, etwa von Material nach den neuesten Erfordernissen auszurichten.

So zieht der Wehrbericht 2024 eine ernüchternde Bilanz: Trotz enormer Investitionen in den vergangenen Jahren hat die Bundeswehr immer noch zu wenig Personal, zu wenig Material und eine schlechte Infrastruktur.

Wer sich fragt, wie Union und SPD auf die Idee kommen, Verteidigungsausgaben ab einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts von der Schuldenbremse auszunehmen, dem sei die Lektüre empfohlen. Der vermutlich letzte Wehrbericht aus der Feder von Eva Högl liefert mehr als eine Begründung dafür. Wer sich allerdings ernsthaft um die Lage der Welt und um die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands sorgt, der sollte den Wehrbericht lieber ungelesen lassen.

Mario Kubina, ARD Berlin, tagesschau, 11.03.2025 11:11 Uhr