Zivilgesellschaft in Thüringen "Jeder Mensch ist wichtig"
Beim Streit für die Demokratie komme es auf jeden an, sagt die Sprecherin des Bündnisses "Nordhausen zusammen". Dort ist gelungen, was nun in ganz Thüringen versucht wird: ein zivilgesellschaftliches Bündnis zu bilden.
tagesschau.de: Im September wäre in Nordhausen beinahe ein AfD-Politiker zum Oberbürgermeister gewählt worden. Sie und einige Hundert andere Menschen hatten dagegen demonstriert. Mittlerweile gehen Hunderttausende deutschlandweit gegen Rechtsextremismus auf die Straße. Wie erleben Sie das?
Tiepelmann-Halm: Ich bin begeistert. Der Ruck ist da. Endlich wird wahrgenommen, dass wir ein rechtsextremes Problem in Deutschland haben. Auch wir werden am Sonntag eine Kundgebung in Nordhausen durchführen und hoffen, dass sich möglichst viele Menschen aus der Region aufraffen. Denn ich wünsche mir, dass die Proteste gerade in den ostdeutschen Städten noch präsenter werden. Schließlich sind die momentanen Prognosen für die Landtagswahlen in Thüringen erschreckend.
tagesschau.de: Was war damals der Auslöser für Ihren Protest?
Tiepelmann-Halm: In Nordhausen kam dieser Ruck erst nach dem ersten Wahlgang. Den hatte der AfD-Kandidat gewonnen. Zwar gab es schon seit zwanzig Jahren das "Bündnis gegen Rechtsextremismus". Das war aber eingeschlafen. Die Mitte der Stadt war still.
Eine Gruppe von rund 30 Personen hat sich dann über private und berufliche Kontakte zusammengefunden und alle wachgerüttelt. Die haben gesagt: "So geht’s nicht, wir müssen was tun." Diese Menschen haben dann auch uns als Organisationen in die Pflicht genommen.
Protest für Zusammenleben
tagesschau.de: Was haben Sie unternommen?
Tiepelmann-Halm: Wir haben in nur zwei Wochen verschiedene Aktionen unter dem Schlagwort #Nordhausenzusammen umgesetzt. Es gab einen offenen Brief, eine Kundgebung, einen Gegenprotest zu einem AfD-Fest in der Stadt.
Am wichtigsten waren vielleicht die Videobotschaften, die wir in den sozialen Netzwerk gestreut haben. Die haben Menschen aufgeklärt und aufgerüttelt.
tagesschau.de: Drei Monate zuvor, bei der Landratswahl in Sonneberg, war es nicht gelungen, ein solches Bündnis auf die Beine zu stellen. Seitdem stellt die AfD dort den Landrat. Welche Rolle hat das für Sie gespielt?
Tiepelmann-Halm: Das hat für Diskussionen gesorgt, ob man sich überhaupt positionieren und den parteilosen Kandidaten unterstützen sollte. Gerade auch aus CDU-Kreisen hieß es: "Wir sind ja nicht in Sonneberg." Man wollte nicht den Fehler machen, den AfD-Kandidaten ins Rampenlicht zu stellen, sondern eher auf "das mündige Momentum des Bürgers" setzen. Uns und dem Bündnis war das aber zu wenig.
Es brauchte eine klare Kante und Haltung - und zwar nicht nur aus der Zivilgesellschaft, sondern eben auch aus dem Sport und der Wirtschaft. Entscheidend war auch das Engagement der Hochschule und der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora hier Nordhausen. Am Ende sind wir nicht gegen die AfD oder ihren Kandidaten aktiv geworden, sondern für die Art und Weise, wie wir in Nordhausen leben wollen.
Diskussion an den Kaffeetisch gebracht
tagesschau.de: Die Wahlbeteiligung stieg, der wegen Zerwürfnissen in der Lokalpolitik umstrittene parteilose Oberbürgermeister konnte sich im zweiten Wahlgang mit 55 Prozent durchsetzen. Hat das Bündnis den Unterschied gemacht?
Tiepelmann-Halm: Wir können nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen sagen, ob und mit welchem Instrument wir erfolgreich waren. Ich denke, unsere Aktionen haben in der Summe einige Menschen zum Umdenken gebracht. Das Bündnis hat es geschafft, verschiedene Räume zu erreichen. Menschen haben am Kaffeetisch gesagt: "Nein, Du kannst Dein Kreuz nicht bei der AfD machen."
tagesschau.de: Die Wahl hat die Stadtgesellschaft polarisiert. Haben sich die Gräben seitdem geschlossen?
Tiepelmann-Halm: Die Polarisierung ist geblieben, wenn auch unterschwellig. Wir haben das während des Hochwassers in den vergangenen Wochen gemerkt. Wir sehen es in den Kommentarspalten unserer Lokalmedien und auf Social Media. Und aus der Politik hören wir, die AfD würde arrogant bis überheblich auftreten, weil sie sich bereits als Siegerin der Kommunal- und Landtagswahlen in diesem Jahr sieht.
Wir im Bündnis sind alle motiviert, weiterhin etwas dagegen zu unternehmen. Wir können und wollen uns nicht vorwerfen lassen, es nicht versucht zu haben.
Neues Bündnis "Weltoffenes Thüringen"
tagesschau.de: In Jena stellt sich am Donnerstag das Bündnis "Weltoffenes Thüringen" vor - ein breiter Zusammenschluss von Initiativen, Institutionen, Unternehmen, aber auch Privatpersonen. Sie eint laut Bündnis die "Sorge um die Demokratie in unserem Land". Auch ihr Verein gehört dazu. Was kann das Bündnis aus Nordhausen lernen?
Tiepelmann-Halm: Die Aktionsformen ähneln unseren. Das ist ein guter Weg. Aber Unternehmen werden jetzt noch gezielter angesprochen oder positionieren sich bereits. Das ist also breiter aufgestellt.
Die entscheidende Frage wird aber sein: Was schaffen wir wirklich gemeinsam und vor allem lokal? Dazu werden wir uns auch mit den Nordhausener Mitgliedern des Bündnisses austauschen. Und wir werden die lokale Vernetzung weiter suchen.
tagesschau.de: Warum der Fokus auf das Lokale?
Tiepelmann-Halm: Im Ehrenamt konzentriert sich vieles in Thüringen oft auf die großen Städte Erfurt, Weimar und Jena. Aktionen in kleineren Städten und Gemeinden sind jedoch genauso wichtig. Zumal die Menschen von dort erstmal zwei Stunden im Auto sitzen, bevor sie sich in den Großstädten vernetzen können. Und auch den kleinen Unternehmen vor Ort fällt es aus unterschiedlichen Gründen schwerer, sich öffentlich zu positionieren.
Ohnehin ist jeder Mensch wichtig. Jeder von uns kann das Gespräch mit einem anderen suchen, der gerade gefrustet ist oder protestiert, und diese Stimmung auffangen. Wir müssen eine gute Diskussionskultur schaffen, kein anklagendes Klima.
tagesschau.de: Welche Erwartungen haben Sie an die Landespolitik in Thüringen, um bis zur Landtagswahl noch eine Trendwende zu schaffen?
Tiepelmann-Halm: Die Parteien sollten klarer kommunizieren, wofür sie stehen. Und sie sollten sich konsequenter von der AfD abgrenzen. Im Landtag hat es Abstimmungen von CDU und FDP mit der AfD gegeben. So etwas sehen wir auch auf kommunaler Ebene weiterhin, sogar bei der SPD. Das schadet der Glaubwürdigkeit.
Das Gespräch führte Thomas Vorreyer, tagesschau.de