Symbolbild: Justiz vor der Anklagebank eines Landgerichts. (Quelle: dpa/Sarbach)

Brandenburg Berlin "Die Beschuldigten kommen an alles, was ein Opfer oder Zeuge bei der Polizei sagt"

Stand: 01.02.2025 08:04 Uhr

Wer vor Gericht gegen jemanden aussagt, sorgt sich mitunter um seine Sicherheit. Denn dort müssen Name und Anschrift genannt werden. Doch Beschuldigte kommen auch schon vorher an sämtliche Daten und Aussagen.

rbb|24: Herr Milius, viele Opfer von Straftaten haben Angst und Sorgen davor, gegen ihre Täter vor Gericht auszusagen. An welche Daten kommt denn ein potentieller Täter in Deutschland im Rahmen eines Strafverfahrens?
 
Carsten Milius: Die Beschuldigten kommen an alles, was ein Opfer oder Zeuge bei der Polizei sagt. Das ist das, was uns als BdK [Bund deutscher Kriminalbeamter] so ärgert. Denn polizei-intern wird auf Datenschutz unglaublich viel Wert gelegt. Immer, wenn ein Polizist sein Polizeiprogramm Poliks startet, muss er sich erst eine Belehrung durchlesen, wann er es für seine tägliche Arbeit wie nutzen darf. Wenn wir Auskünfte einholen wollen, stoßen wir immer wieder an die Grenzen des Datenschutzes. Doch in dem Moment, wenn wir etwas für eine Ermittlungsakte aufgeschrieben haben und ein Rechtsanwalt oder eine Rechtsabteilung einer Versicherung die Akte liest, also sobald die Akte aus unserer Behörde rausgegeben wurde, ist der Datenschutz bei null. Das heißt, der Rechtsanwalt sieht alles – und darf auch alles an seine Mandanten weitergeben.
 
Wir finden bei Durchsuchungen bei Tatverdächtigen immer wieder komplette Kopien von Ermittlungsakten. Und da steht alles drin, was ein Zeuge der Polizei gesagt hat. Die Personalien, die Telefonnummer, das Geburtsdatum, wo jemand wohnt – und gegebenenfalls sogar die Lage der Wohnung.

Warum ist das so?
 
Das ist einerseits eine Errungenschaft des Rechtsstaates. Denn man will ja keine Denunziation wie im Dritten Reich oder in der DDR. Jemand, der einer Straftat beschuldigt wird, soll wissen, was ihm vorgehalten wird – und wie die Strafverfolgungsbehörden zu ihren Erkenntnissen kommen. Wenn die Polizei bei jemandem vor der Tür stände und sagte, er oder sie würde des Mordes beschuldigt, aber nicht, wie sie dazu kommt, widerspricht das einem fairen Verfahren.
 
Andererseits hat das die oben genannten Nachteile. Im Rahmen von beispielsweise Jugendgruppengewalt geht das sogar noch – denn da hält sich die kriminelle Energie noch verhältnismäßig in Grenzen. Doch wenn beispielsweise Clans in Straftaten involviert sind und man stellt sich als Zeuge zur Verfügung, weil man etwas gesehen hat, was ein Clan-Angehöriger gemacht hat, dann geht es da um hardcore organisierte Kriminalität. Und diese Leute erfahren über ihre Anwälte alles über den Zeugen.

Und diese Leute gehen wirklich los und bedrohen Zeugen?
 
Im Regelfall ist es glücklicherweise so, dass Beschuldigte sich – wenn sie durch die polizeilichen Ermittlungen aus der Anonymität geholt werden – zurückhalten. Denn jedes Einwirken auf Zeugen gilt als sogenannte Verdunklung und ist ein Haftgrund. Leider bekommen wir die Bedrohung von Zeugen kaum direkt mit. Aber im Prinzip kennt fast jeder Kollege Fälle, wo man während der Ermittlungen durch Zeugen zu einem recht eindeutigen Ermittlungsergebnis kommt. Und dann sagt der Zeuge vor Gericht plötzlich, die Polizei habe ihn falsch verstanden. Er habe das so nie gesagt. Selbst wenn man so jemandem das unterschriebene Zeugenprotokoll vorlegt, sagen die Zeugen dann manchmal, sie seien von der Polizei gezwungen worden oder sie hätten es so nie gesagt. Wir können dann natürlich nicht beweisen, dass dieser Zeuge unter Druck gesetzt oder bezahlt wurde.

Symbolbild: Eine Zeugin vor dem Prozess im Kriminalgericht in Berlin im Gerichtsflur. (Quelle: dpa/Jutrczenka)
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Nochmal zurück zu dem, was über Zeugen bekannt wird. Selbst für recht kleine Kinder gibt es kaum Sonderregeln, was die Offenlegung ihrer Identität betrifft?
 
Es gibt keine Sonderregeln. Es geht eben darum, dass solche Fälle vor den Gerichten ordentlich verhandelt werden und es keine Geheimverfahren gibt, in denen dem Beschuldigten irgendwas vorgeworfen wird. Unser Strafprozessrecht ist darauf ausgelegt, dass möglicherweise unbescholtene Bürger Objekt eines Strafverfahrens werden. [Es gilt die Unschuldsvermutung.; Anm. d. Red.]
 
Eines der wenigen Dinge, die möglich sind, ist, eine Anschrift zu nennen, unter der der Zeuge nicht lebt, aber erreichbar ist. Doch zu Beginn eines Strafverfahrens weiß man häufig noch gar nicht, wer dahintersteckt. Und spätestens, wenn bei jemandem eingebrochen wird, ist diese Anschrift ja der Tatort und wird so bekannt. Doch selbst wenn Ladendetektive jemanden festnehmen, wird deren Privatadresse benannt – als ob sie als Privatperson tätig wären.

Würden Sie jemandem aus ihrem persönlichen Umfeld immer direkt zu einer Anzeige raten – unabhängig vom Fall?
 
Ich würde Straftaten immer – auch als Privatperson – anzeigen und auch immer dazu raten. Denn die Polizei kann ja nur tätig werden, wenn die Straftat bekannt wird. Ich bin Steuerzahler in diesem Land und wenn mir eine Straftat passiert, möchte ich, dass sich die Polizei darum kümmert. Was meine Daten betrifft, würde ich aber Wert darauf legen, dass eine ladungsfähige Anschrift genannt wird, die nicht meine Adresse ist. In meinem persönlichen Fall lässt sich nicht verhindern – auch wenn mir privat etwas passiert – dass herauskommt, dass ich Kriminalbeamter bin.

Im Regelfall ist es glücklicherweise so, dass Beschuldigte sich – wenn sie durch die polizeilichen Ermittlungen aus der Anonymität geholt werden – zurückhalten.

Was könnte für Zeugen noch passieren? Vielfach haben sie ja auch damit ein Problem, sich mit ihrem Angesicht vor den Tätern zeigen zu müssen.
 
Die meisten Serienstraftäter – Diebe, Straßenräuber, Einbrecher – begehen so viele Straftaten, dass sie sich nicht jedes Gesicht merken können. Theoretisch weiß auch jeder Straftäter, dass die Tat angezeigt und die Polizei dann tätig wird. Die wenigsten Straftäter haben Interesse, Muße oder Energie, Zeugen hinterherzurennen. Sie müssten sonst ja auch nach uns, den Kriminalbeamten, trachten. Denn wir stellen ja die Fragen, decken sie auf und machen sie namhaft. Ich weiß gar nicht, wie oft ich schon vor Gericht war – und auch ich muss ja meinen vollständigen Namen, mein Alter, meinen Wohnort nennen. So bin ich auf Google schon recht gut auffindbar. Und mir ist noch nie irgendwas passiert.

Es passiert also, dass Zeugen eingeschüchtert werden, aber es ist nicht die Regel?
 
Genau. Die Erfahrung ist, dass in dem Moment, in dem das Schweigen gebrochen wird, eigentlich die Gefahr vorbei ist. Aber am Ende kann man auch das nicht pauschalisieren. Je mehr man sich in den Bereich der organisierten Kriminalität bewegt, umso mehr wird Einfluss genommen. Das können Gewaltandrohungen oder -anwendungen sein – es kann aber auch sein, dass einem Zeugen Geld für sein Schweigen geboten wird.
 
Im Fall von Jugendgruppengewalt sind auch die Rechtsanwälte meiner Erfahrung nach bemüht, dass ihre Mandanten die Zeugen in Ruhe lassen. Denn sonst geht es schlimmer aus für sie. Die Jugendlichen haben durch das Jugendstrafrecht, bei der es nicht um Strafe, sondern um Erziehung geht, ja den Vorteil, dass die Strafen relativ milde ausfallen. Doch in dem Moment, in dem Zeugen eingeschüchtert werden, sieht das ganz anders aus.

Symbolbild: Eine Frau im Dunklen am Smartphone (Quelle: dpa/Josep Suria)
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Sollte es für Kinder vor Gericht besondere Regeln geben? Da sind ja meistens sowieso eher die Eltern die, die eine Anzeige vorantreiben.
 
Wichtig ist, dass man ein Kind nicht schon mit Angst impft. Wenn man sagt, dass man lieber nicht zur Polizei geht, erzieht man eine Angst. Das Gegenteil ist eigentlich besser: Wenn Eltern sagen, dass zwar was Schlimmes passiert ist, man es aber anzeigt bei der Polizei, damit alles seinen Lauf nimmt und die Täter bestraft werden. So können Kinder am Ende auch positive Erfahrungen machen.

Und wenn ein Kind durch die Tat traumatisiert ist und durch eine Verhandlung eine Retraumatisierung droht?
 
Da könnte man vor Gericht Aussageregelungen treffen, damit das Kind nicht in persona im Gerichtssaal stehen muss. Wir haben im BdK da auch lange diskutiert, was man alternativ zu den jetzigen Gegebenheiten einführen kann. Es muss ja praktikabel sein. Eine Idee war, für die Staatsanwaltschaft eine extra Personalienmappe anzulegen, sodass der Rechtsanwalt des Beschuldigten beispielsweise die Anschrift nicht zu sehen bekommt. Der Name des Opfers muss aber aus Gründen des fairen Verfahrens genannt werden. Und es muss auch vor Gericht erscheinen. Das ist ein Problem, das wir nicht lösen können.
 
Vielen Dank für das Gespräch.
 
 
 
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24