Thüringen Neuanfang oder Symbolpolitik? Wie Thüringen den Koalitionsvertrag von CDU, BSW und SPD bewertet
Der Koalitionsvertrag einer möglichen künftigen Thüringer Landesregierung aus CDU, BSW und SPD verspricht viel. Doch was halten Bürger, Wissenschaft und Oppositionspartei von den Ankündigungen? Darum ging es am Montag in der MDR-Sendung "FAKT IST!" aus Erfurt.
126 Seiten umfassen die Pläne der sich anbahnenden künftigen Thüringer Landesregierung. Die Ideen im Koalitionsvertrag sind groß, die Themen bunt. Doch werfen einige zentrale Vorhaben Fragen auf: Woher soll das Geld kommen? Woher die Leute, um vorgesehene Arbeitsplätze zu besetzen? Und woher die Stimmen im Parlament, um ein Gesetz zu verabschieden?
Politikwissenschaftler warnt vor Symbolpolitik
Im Koalitionsvertrag heißt es, manche Verwaltungsgebühren sollen abgeschafft werden. Andreas Bühl, parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Landtagsfraktion, hat das Regierungspapier mit ausgehandelt. Er sagt jedoch auch, dass noch unklar ist, wie das Kostenloch gestopft werden kann, das den Kommunen durch möglicherweise wegfallende Gebühren, wie fürs Ausstellen eines Personalausweises, entstehen könnte. Fest steht jedoch: "Zum 1. August sollen die Hortgebühren abgeschafft werden", sagt Bühl.
Das begrüßt bei "FAKT IST!" Publikumsgast Volker Lohr aus Ringleben bei Bad Frankenhausen: "Es liegt mir am Herzen, dass Kita- und Hortgebühren abgeschafft werden. Ich habe sechs Enkel, da lohnt sich das." Professor André Brodocz, Politikwissenschaftler an der Universität Erfurt, warnt jedoch davor, bei anderen Gebühren Versprechungen zu machen, für die nicht das Land, sondern Kommunen oder Bund zuständig sind - das sei "Symbolpolitik".
"Brombeere" will Verwaltung entlasten - Linke hält Vorgehen für realitätsfern
Die mögliche Koalition aus CDU, BSW und SPD plant aber nicht nur Kosten, sondern auch den Verwaltungsaufwand zu senken - beispielsweise durch die sogenannte "Acht-Wochen-Genehmigungsfrist". Soll heißen: Liegen den Bürgern Genehmigungen für Anträge nach acht Wochen noch nicht vor, gelten sie theoretisch als abgesegnet.
An Fristen zu erinnern, ist ein hilfreiches Mittel, das das Gesamtsystem nachhaltig verändern kann. Professor André Brodocz | Über die geplante Acht-Wochen-Genehmigungsfrist der Brombeer-Regierung
Sendungsbesucher Klaus Balzereit aus Stadtroda fragt nach, ob er rechtlich abgesichert sei, wenn er nach den abgelaufenen acht Wochen beispielsweise mit einem Garagenbau beginnt, ohne Rückmeldung von der Verwaltung erhalten zu haben. Bühl räumt ein: Ohne Bescheid gehe es natürlich nicht. Die Acht-Wochen-Frist solle der Verwaltung jedoch Druck machen.
Kritik: Fachkräftemangel auch in Verwaltungen präsent
Ob das was bringt? Ja - sagt Politikwissenschaftler Brodocz. "An Fristen zu erinnern, ist ein hilfreiches Mittel, das das Gesamtsystem nachhaltig verändern kann." Die Landesvorsitzende der Partei "Die Linke", Ulrike Grosse-Röthig, hingegen findet, dass der Ansatz zur Verwaltungs-Entlastung der Realität nicht gerecht wird: "Auch in kommunalen Verwaltungen herrscht Fachkräftemangel." Jenen weiter Druck zu machen, die ohnehin schon unter hoher Arbeitsbelastung ächzen würden, führe auch zu höherer Fehleranfälligkeit.
Auch Publikumsgast Alexander Laube aus Weimar wünscht sich von der Regierung eine stärkere Unterstützung der Verwaltung: "Zu sagen: 'Die in der Verwaltung wollen einfach nicht schneller, aber könnten', ist für mich zu kurz gedacht."
Die beste Entbürokratisierung sei es, stimmt CDU-Politiker Bühl zu, Regelungen wegfallen zu lassen. Außerdem sei geplant, "in überschaubarer Zeit" künstliche Intelligenz einzusetzen, um Verwaltungsangestellte zu entlasten - beispielsweise beim Verfassen von Ablehnungsbescheiden.
Was die Brombeer-Koalition in der Migrationspolitik plant
Betroffen von der ausgeprägten Bürokratie ist auch die Arbeit rund um Migration und innere Sicherheit. Auch dafür hat die "Brombeer"-Koalition mehrere Vorhaben: eine zentrale Ausländerbehörde für Thüringen schaffen, neue Erstaufnahme-Einrichtungen statt der bald geschlossenen in Suhl und Eisenberg aufbauen, Abschiebehaft-Plätze im Freistaat einrichten, die es bisher nicht gab, und Asylverfahren und Abschiebungen beschleunigen.
"Kindertheater": Wie Bürger und Parteien auf die Mehrheitsfindung blicken
Bleibt nur die Krux mit den Mehrheiten: Die erwartete Dreierkoalition hat 44 der 88 Sitze im Landtag - einer zu wenig, um die nötige Stimmanzahl für Gesetzesvorhaben zu erreichen. CDU, BSW und SPD sind also immer darauf angewiesen, dass ihre Vorschläge mindestens eine Unterstützerstimme aus der Opposition erhalten. Nachdem Grüne und FDP die Fünf-Prozent-Hürde bei der Landtagswahl im September verfehlt haben, sind alleinige Oppositionsparteien nun die Linke und die AfD, die die größte Fraktion im neuen Thüringer Landtag stellt.
Wegen ihres sogenannten "Unvereinbarkeitsbeschluss" ziert sich die CDU vor der Zusammenarbeit mit der Linken. Grosse-Röthig bietet diese erneut an. Mit Blick auf eine mögliche Unterstützung der Regierungsvorhaben durch AfD-Stimmen sagt sie: "Wenn es der Brombeere nicht wert ist, mit uns Stabilität zu suchen, suchen sie die Mehrheiten offensichtlich woanders."
Publikumsgast Klaus Balzereit kommentiert das Umschiffen von AfD-Unterstützung als "Kindertheater". Der Nachfrage zur populären Debatte, ob Parteien mit der als rechtextremistisch eingestuften Thüringer AfD zusammenarbeiten sollten, weicht Bühl aus.
Stattdessen stellt Bühl einen anderen Ansatz vor, mit dem eine künftige Regierung für Mehrheiten sorgen will: mit dem sogenannten "prälegislativen Konsultationsverfahren".
Politikwissenschaftler André Brodocz erklärt: "Es wird kein ausformulierter Gesetzesentwurf ins Parlament gegeben, sondern [vorab] Eckpunkte in alle Landtags-Fraktionen. Dann lässt sich [die Regierung von den Oppositionsparteien] zurückspiegeln: Was könnt ihr euch besser vorstellen? Was muss ich berücksichtigen, um die Linke zu gewinnen?"
Grosse-Röthig blickt skeptisch auf das Konzept: Durch die wechselnden Mehrheiten sei keine Sicherheit geboten und vieles würde verzögert. Bühl hingegen verteidigt es: "Es ist ein neuer Angang, der auch notwendig ist."
Innere Sicherheit: Besucherin verweist auf fehlende Fachkräfte auch im Polizeidienst
Wie eine erste Brombeer-Koalition Deutschlands künftig Mehrheiten schaffen kann, wird sich zeigen. Benötigt werden sie jedoch auch bei der ambitionierten Personalpolitik der Regierung: Sie plant, dass bis 2029 1.800 neu ausgebildete Polizisten in Thüringen unterwegs sein sollen. 1.500 davon würden diejenigen ersetzen, die in Rente gehen. Die 300 weiteren sollen das Sicherheitsgefühl der Bürger erhöhen - beispielsweise auch, indem sie Taser bei sich tragen dürfen.
Das Publikum ist bei den dementsprechend 60 neuen Polizisten pro Jahr skeptisch. Besucherin Janina Keil aus Niederzimmern fragt sich: "Woher sollen die ganzen Leute kommen? Wer macht das noch gern, wo die Gewalt gegenüber Polizisten extrem hoch ist?" CDU-Vertreter Bühl schlägt vor, die Bezahlung als Stellschraube zu sehen und sich genauer damit zu befassen, warum Menschen die begonnene Polizei-Laufbahn abbrechen würden.
Bildungspolitik der designierten Regierung: Zwischen "hilfreich" und "Symbolpolitik"
Bevor es jedoch um die Berufswahl geht, gilt es, die Schulbank zu drücken. Auch zur Bildungspolitik sind umfangreiche Vorhaben im Koalitionsvertrag festgehalten: Demnach sollen die sogenannten Kopfnoten in allen Klassenstufen wieder eingeführt und damit Betragen, Fleiß, Mitarbeit und Ordnung bewertet werden.
Sendungsbesucher Gunnar Pfeil, Leiter des Eisenacher Staatlichen Berufsschulzentrums Heinrich Ehrhardt unterstützt die Idee: "Das ist dann wieder ein Zeugnis, das für alle verständlich ist." An Berufsschulen wie seiner würde es außerdem dem Betriebsleiter helfen, den Azubi einzuschätzen und ihn beispielsweise im Betrieb an passender Stelle einzusetzen.
Das Ziel des Handyverbots an Grundschulen überzeugt Linke-Politikerin Grosse-Röthig hingegen nicht. "Das ist Symbolpolitik - das ist schließlich schon in den Schulordnungen enthalten."
CDU-Politiker: Übernahme der Studiengebühren für angehende Mediziner als Anreiz
Auch sollen alle ausscheidenden Lehrkräfte ersetzt werden. Dabei stellt sich eine ähnliche Frage wie bei den 1.800 geplanten Polizisten und einem anderen Koalitions-Vorhaben: Ärzte und Apotheken sollen für niemanden in Thüringen weiter entfernt sein als 20 Fahrminuten - denn nur durch eine abgedeckte Grundversorgung würden Thüringer Dörfer attraktiv bleiben.
Im Vertrag steht "Die Voraussetzung für ein 20-Minuten-Land sind mehr Ärztinnen und Ärzte." Doch woher sollen die in Zeiten des demografischen Wandels und Fachkräftemangel kommen? Andreas Bühl will sie beispielsweise gewinnen, indem das Land die Kosten einiger Studienplätze an der privaten Medizin-Uni trägt, die es seit Kurzem in Erfurt gibt. Im Gegenzug würden die angehenden Mediziner an Thüringen als Arbeitsort gebunden werden.
Welche ihrer Ziele aus dem Koalitionsvertrag eine Brombeerregierung umzusetzen vermag, wird sich möglicherweise ab Mitte Dezember zeigen - dann könnte der Ministerpräsident gewählt werden und die drei möglichen Regierungsparteien damit starten, sich um Geld, Fachkräfte und Mehrheiten zu bemühen.
Prognosen unserer User zur Brombeerkoalition
Tomkey: "Ich gebe der Brombeere keine 2 Jahre. Wolfs Pragmatismus wird Wagenknecht gegen den Strich gehen. Tpass 6-12 Monate dann spätestens ist die Brombeere ausgetrocknet. Also ich tippe auf es wird nicht langweilig aber auch nicht bis zum Ende reichen." Ralf G: "Ambitionierte Ziele im Koalitionsvertrag, deren Umsetzung ich bezweifle. Die politische Ausrichtung der beteiligten Parteien ist zu widersprüchlich." klaus.kleiner77: "Der Thüringer Wähler wird der Brombeer-Koalition sehr schnell überdrüssig werden, weil Wähler erkennen, dass es keine wesentliche Verbesserungen gibt!" Thorsten Pfeiffer: "Das Land Thüringen ist tief gespalten und dieser Koalitionsvertrag wird nicht über die volle Legislaturperiode gehen. Die CDU wird gezwungen sein, so viele Kompromisse einzugehen, dass Ihre Klientel sich weiter von Ihr abwenden wird." Nachgedacht: "Das BSW wird schnell entzaubert, als Steigbügelhalter für die etablierten Parteien." hinter-dem-regenbogen: "Wenn das [„Mehr Geld für alle“, d.Red.] aber alles ist, was da angeboten wird, dann sehe ich schwarz für eine gestalterische Politik, die das Wohl und die Zukunftssicherheit Aller berührt." Wagner: "Ohne Mehrheit wird die Koalition getrieben-mal nach links und ganz verschämt,mal nach rechts. Vieles ist Wunschdenken und da wird man in der Realität schon merken,das schöne Worte da sind,die Taten aber fehlen werden,weil die Kassen leer sind." Eddi58: "126 Seiten Koalitionsvertrag, viele gute Wünsche und Ideen und Symbolpolitik— allein die Umsetzung könnte wegen des Mangels an Geld und Personal schwierig werden. Papier ist geduldig, ob es das Wahlvolk auch ist?" Mario Becher: "Versprochen wird immer viel, an euren Taten werden wir euch messen. Heike Langheinrich Natürlich werden sie zur afd gehen und mit ihr zusammen arbeiten."
MDR (ost)