Thüringen Traum vom eigenen Klingelschild: Wie junge Erwachsene mit Behinderung selbstbestimmt leben
Ein eigenes Klingelschild - das ist für viele Menschen mit Behinderungen keine Selbstverständlichkeit. Noch immer ist es vielen nicht möglich, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Simone und Uwe Lieder haben ihrer Tochter und fünf weiteren Menschen den Traum erfüllt - mit einem eigenen Haus.
Auf den ersten Blick ist es ein unscheinbarer Neubau am Rand von Sondershausen. Erst an der Tür wird man stutzig. Was auffällt: Das Haus, das wie ein großes ebenerdiges Einfamilienhaus aussieht, hat gleich sieben Klingelschilder. Sechs davon mit Namen, ganz unten eines mit der Aufschrift "Wohngemeinschaft".
Eine eigene Klingel mit dem eigenen Namen - was für viele selbstverständlich ist, ist für die Bewohnerinnen und Bewohner dieses Hauses ein wichtiger Schritt in Richtung Eigenständigkeit. Hinter der Tür lebt eine bunt gemischte Gruppe junger Erwachsener: Patrice, Carolin, Sarah-Sophie, Danny, Benny und Jaqueline. Sie alle haben unterschiedliche körperliche und geistige Behinderungen. Was sie verbindet, ist der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben.
Ein Zuhause mit Perspektive
Uwe und Simone Lieder haben das 300 Quadratmeter große Haus für ihre Tochter Jaqueline entworfen und gebaut - ein Herzensprojekt, das ihre Vorstellungen von einem selbstbestimmten Leben für Jaqueline verwirklichen sollte. Daraus wurde Thüringens erste ambulante WG für Menschen mit Behinderungen. Ihr Ziel war es, ihrer Tochter, die das Down-Syndrom hat, ein Leben mit größtmöglicher Unabhängigkeit zu ermöglichen, ohne dass sie dauerhaft auf die Unterstützung der Eltern angewiesen ist.
"Wir sind schließlich nicht für immer da", sagt Simone Lieder. Vor allem wollten sie und ihr Mann sicherstellen, dass Jaqueline nicht irgendwann in einer staatlichen Einrichtung mit älteren Menschen leben muss, "wie es so oft der Fall ist". Aus diesem Wunsch heraus entstand die Idee einer Wohngemeinschaft für junge Menschen mit Behinderung. Initiiert, umgesetzt und bezahlt von Jaquelines Eltern und eigenen Angaben zufolge ohne Fördergelder.
Simone Lieder mit ihrer Tochter, der sie mit dem Bau des Hauses ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen möchte.
Leben in eigenem Apartment bedeutet Eigenständigkeit
Vor einem Jahr war das Haus fertig und es zogen neben Jaqueline auch Patrice, Sarah-Sophie, Danny und Benny in die Wohngemeinschaft ein. Ein halbes Jahr später kam Carolin dazu - auch für sie ein großer Schritt in Richtung Eigenständigkeit. "Am Anfang war es schon eine Umstellung", erzählt die 37-Jährige, die bis zum Sommer bei ihrer Familie lebte. Doch inzwischen genießt sie die Freiheit: "Die WG bedeutet für mich Selbstständigkeit und Eigenständigkeit". Der barrierefreie Wohnraum ist für Carolin ideal.
Ihr eigenes, großzügiges Apartment mit eigenem Bad und bodentiefer Dusche und eigener Terrasse bietet ihr ausreichend Bewegungsfreiheit mit ihrem Rollstuhl. Carolin arbeitet im Landratsamt Sondershausen und hat eine besondere Leidenschaft: Boccia. "Einige Mitbewohner konnte ich schon begeistern", sagt sie lächelnd.
Jeder Bewohner unterschiedlich und einzigartig
Doch wie in jeder WG besteht auch die Sondershäuser Truppe aus ganz unterschiedlichen Charakteren. Jeder hat seinen eigenen Alltag, der vor allem von der Arbeit geprägt ist. Carolin im Landratsamt, Jaqueline in der Küche des Ferienparks Feuerkuppe, die anderen in einer Behindertenwerkstatt. "Von halb acht bis halb vier bin ich dort", erzählt Patrice und zeigt stolz die Gelboxen, die er verpackt. "Das ist ein verdammt langer Arbeitstag", fügt er hinzu.
Der Werkstattlohn liegt in Deutschland im Durchschnitt und - zusätzliche Hilfen herausgerechnet - bei etwa 250 Euro im Monat. Der Stundenlohn damit bei unter zwei Euro. Die langen Tage fordern ihren Tribut: Oft schläft Patrice auf der Busfahrt nach Hause erschöpft ein.
Auch Benny arbeitet in einer Behindertenwerkstatt. Er hat seinen Platz in der WG durch die Empfehlung seiner Hausärztin gefunden. "Ich finde es echt klasse hier", sagt er begeistert. "Alle Vorstellungen, die ich vorher hatte, wurden übertroffen." Besonders das gemeinsame Kochen bereitet ihm Freude: "Ich bin der WG-Koch so zusagen. Ich koche sehr gerne und viel. Das habe ich von meiner Oma in die Wiege gelegt bekommen."
Für den Alltag fehlt ein WG-Bus
Für seine Leidenschaft hat Benny auch genügend Platz. Das Herzstück des Hauses ist der großzügige Wohn- und Essbereich in der Mitte des Flachbaus. Hier wird gemeinsam gegessen, in der Weihnachtszeit werden Plätzchen gebacken, Kränze gebastelt und über das Erlebte gesprochen.
Während Benny oft das Gespräch sucht, ist Denny eher wortkarg. Doch in einem sind sich beide einig: "Gefällt mir", sagt Denny knapp, wenn es um das Leben in der Wohngemeinschaft geht.
Benny zeigt auf einen Putzplan, ohne den in der WG nichts funktioniert.
Ein Highlight für die Gruppe sind die Wochenenden. Gemeinsam geht es auf den Weihnachtsmarkt, zur Alpaka-Wanderung, in den Freizeitpark oder zum Boccia-Turnier. Doch solche Ausflüge sind logistisch anspruchsvoll. Ein behindertengerechtes Fahrzeug, in das alle sechs Bewohner samt Rollstuhl passen, fehlt bislang. Das können sie sich derzeit nicht leisten.
Ohne Spenden wird das diesmal nicht zu stemmen sein, sagt Simone Lieder, während die sechs Bewohner um sie herum stehen. Sie wissen darum und hoffen, dass bald genug Geld da ist. Denn ohne die Unterstützung der Eltern und deren Autos sind die Ausflüge bisher nicht möglich.
"Wenn keiner Zeit hat, fällt der ganze Ausflug ins Wasser", bedauert Benny. "Und ich will ja auch nicht immer die Eltern dabei haben", ergänzt Patrice. Einfach mal mit der Betreuerin raus aus Sondershausen fahren, wenn sie Lust haben, das geht nicht.
Ist das Wetter zu schlecht, oder der Bus für einen Ausflug fehlt, spielen die WG-Bewohner zusammen Darts.
Ein Abend, an dem auch nicht alle Eltern mit sollten: der Discobesuch. Benny zeigt Videos vom DJ-Duo "Gestört aber Geil", das an dem Abend aufgelegt hatte. Die Stimmung im Raum wird lebendig, als die jungen Erwachsenen in Erinnerungen an die durchtanzte Nacht schwelgen.
"Schlapp machen? War nicht", sagt Pflegerin Sophie und lacht. Sie gehört zu dem Team vom ambulanten Pflegedienst, der die jungen Erwachsenen etwa 16 Stunden am Tag betreut, auch nachts. Sie unterstützt nur dort, wo Unterstützung benötigt wird. "Aber wir begleiten, wo wir können", erklärt Sophie. Und so heißt es am Wochenende schon mal: Tanzen statt Nachtwache - gern bis in die frühen Morgenstunden.
Motor einer jeden WG: der Putzplan
Das Zusammenleben in der WG scheint gut organisiert und folgt klaren Plänen. Dazu gehört auch: Putzen, Wäsche waschen, Müll rausbringen. Mit Unterstützung von Pflegerin Sophie klappt es auch mit der Mülltrennung, wie Sarah-Sophie stolz zeigt.
An dem Weg vom Hauswirtschaftsraum zum Wohnzimmer hängt ein Putzplan, von dem so manche Studenten-WG in Jena oder Erfurt wohl nur träumen könnte. Jeder Bewohner ist mit Foto abgebildet, und für jede Aufgabe gibt es ein passendes Symbol. Zusätzlich gibt es noch einen gemeinsamen Kochplan. Die Kochteams wechseln immer wieder.
Alles aus eigener Tasche bezahlt
Dass die sechs Bewohner heute so zusammenleben können, ist vor allem dem unerschütterlichen Willen von Jaquelines Eltern zu verdanken. Der Weg dorthin war alles andere als einfach, wie das Ehepaar erzählt.
Sie berichten von bürokratischen Hürden. "Wir haben unzählige Anträge gestellt", beginnt Uwe Lieder seine Aufzählung der Behördengänge, unter anderem bei der Thüringer Aufbaubank, beim Behindertenverband und beim Wirtschaftsministerium. Immer wieder wurden sie vertröstet - am Ende kam nichts dabei heraus, "nur Niederschläge, nur graue Haare und irgendwelche gesundheitlichen Leiden", sagt Uwe Lieder halb lachend, halb resigniert.
Das gesamte Projekt hat das Ehepaar schließlich aus eigener Tasche finanziert - mehr als eine halbe Million Euro. Den einzigen Zuschuss in Höhe von 10.000 Euro für die behindertengerechten Terrassen und die Küche mussten sie mit Zinsen zurückzahlen. Trotz aller Mühen war das Ergebnis für sie jedoch jeden Aufwand wert: Jaqueline fühlte sich schon kurz nach dem Einzug in der WG wohler als im Elternhaus. Sie hat nun ihr eigenes Klingelschild. Ihr eigenes Zuhause.
Ein Jahr voller Gemeinschaft
Wie in jeder Wohngemeinschaft gibt es auch hier mal Reibungen, aber der Ort ist vor allem eines: ein Beispiel für gelebte Inklusion, in dem Selbstbestimmung und Unterstützung Hand in Hand gehen. Auch wenn Jaquelines Mutter mit dem Begriff "Inklusion" auf Kriegsfuß steht. Denn für viele sei es eben genau das: ein leeres Wort oder eine "halbe Wissenschaft". Doch für sie muss Inklusion "einfach gelebt werden".
Durch ihre Tochter und die anderen jungen Erwachsenen weiß sie: "Einfach mal machen und sehen, ob es funktioniert - und wenn nicht, muss man eben Abstriche machen." Und genau das tun Patrice, Carolin, Sarah-Sophie, Danny, Benny und Jaqueline: Sie versuchen, finden Lösungen und rocken ihr Leben - selbstbestimmt, jeden Tag.
MDR (jml)