Nach Transit-Stopp in der Ukraine Wie sicher die Gasversorgung noch ist
Die Ukraine hat den Gastransit aus Russland nach Westen teilweise gestoppt. Was sind die Folgen? Drohen nun Engpässe in Deutschland und anderswo in Europa? Und um welche Mengen geht es?
Erstmals hat der Krieg in der Ukraine den Gas-Fluss durch das Land in Richtung Europa ins Stocken gebracht. Man liefere zwar weiterhin Gas über die Ukraine in Richtung Westen, allerdings weniger als zuletzt, teilte der russische Energieriese Gazprom heute mit. Antworten auf einige Fragen.
Was ist passiert?
Die Ukraine hatte am Dienstag angekündigt, von Mittwoch an den Transit von russischem Gas im Gebiet Luhansk im Osten des Landes einzustellen. Aufgrund der russischen Besatzung sei es unmöglich geworden, den Punkt Sochraniwka (russisch Sokhranovka) sowie die Verdichterstation Nowopskow zu kontrollieren, hieß es vom ukrainischen Gasnetzbetreiber GTSOU. Aus diesem Grund werde der Einspeiseknoten vom Gasfluss abgeschnitten.
Der russische Energieriese Gazprom bestätigte daraufhin, dass tatsächlich weniger Gas durch die Ukraine in Richtung Europa geleitet werde. Die Route Sochraniwka ist Teil der Sojus-Pipeline, die vom russischen Gebiet Orenburg bis ins ukrainische Uschhorod führt. Sie verläuft durch die ukrainische Region Luhansk, von der ein Teil unter der Kontrolle pro-russischer Separatisten steht.
Die Jamal-Pipeline ist eine von drei Hauptleitungen, die auch Deutschland mit Erdgas aus Russland versorgen. Die mehr als 4000 Kilometer lange Pipeline verläuft von den Jamal-Gasfeldern in Sibirien durch Russland, Belarus und Polen bis zum Oderbruch in Brandenburg. Für die deutsche Gasversorgung hat sie allerdings eine geringere Bedeutung als die Pipelines Nord Stream 1 und Transgas.
Um welche Mengen geht es?
"Gazprom liefert am 11. Mai russisches Gas im Umfang von 72 Millionen Kubikmetern für den Transit durch das Gebiet der Ukraine", sagte Unternehmenssprecher Sergej Kuprijanow der Agentur Interfax zufolge. Gestern habe das Auftragsvolumen noch bei 95,8 Millionen Kubikmetern gelegen. Demnach gingen die Ströme russischen Gases durch Pipelines in der Ukraine insgesamt um rund ein Viertel zurück.
"Die Einspeisung von russischem Gas über den Knoten bei Sokhranovka liegt bei rund 33 Millionen Kubikmeter täglich", so der Militärökonom Marcus Keupp gegenüber tagesschau.de. Auch der ukrainische Gasnetzbetreiber teilte mit, dass pro Tag bis zu 32,6 Millionen Kubikmeter Gas wegfielen.
Welche Bedeutung hat der Stopp für Europa?
Nach GTSOU-Angaben ist damit fast ein Drittel der täglich über die Ukraine nach Europa transportierbaren Höchstmenge betroffen. Allerdings ist der Ukraine-Transit für Europas Versorgungssicherheit laut Experte Keupp "nicht mehr so bedeutend". So seien 2009 noch etwa 80 Prozent des EU-Gasimports über die Ukraine transportiert worden, erklärt er. Mittlerweile flössen jährlich nur noch rund 43 der insgesamt 200 Milliarden Kubikmeter durch Pipelines in der Ukraine.
"Momentan läuft etwa ein Viertel der russischen Exporte in die EU über die Ukraine", betont Georg Zachmann von der Brüsseler Denkfabrik Bruegel gegenüber tagesschau.de. Davon wiederum sei durch den Transit-Stopp von Sokhranovka etwa ein Drittel betroffen - insgesamt also weniger als zehn Prozent der russischen Gesamtimporte. "Der betroffene Grenzpunkt hat letztes Jahr 140 Terawattstunden (TWh) Gas entgegengenommen."
"Bisher liefert der komplette Ukraine-Transit insgesamt etwa 110 Millionen Kubikmetern am Tag", sagt Andreas Schröder, Leiter der Energieanalyse beim Energiemarktforscher ICIS. Damit sei der Ukraine-Transit zwar wichtig, aber weniger bedeutend als die Gaslieferungen durch die Ostseepipeline Nord Stream 1. Zum Vergleich: Diese Pipeline hat eine Kapazität von mehr als 500 TWh und liefert über 150 Millionen Kubikmeter am Tag.
Ist die Gasversorgung in Deutschland gesichert?
In Deutschland drohen nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums derzeit keine Engpässe. "Die Versorgungssicherheit in Deutschland ist aktuell weiter gewährleistet", sagte eine Sprecherin der Nachrichtenagentur dpa. "Wir beobachten die Lage genau".
Auch die Bundesnetzagentur sieht keine größeren Auswirkungen für die Versorgung. "Die Gasversorgung in Deutschland ist stabil. Die Versorgungssicherheit ist weiterhin gewährleistet", heißt es in ihrem täglichen Lagebericht. Zwar seien die Gasmengen, die über die Ukraine im bayerischen Waidhaus nach Deutschland fließen, infolge der Transit-Reduzierung um gut 25 Prozent gegenüber dem Vortag zurückgegangen. "Diese Mengen werden aktuell durch höhere Flüsse insbesondere aus Norwegen und aus den Niederlanden ausgeglichen", so die Behörde.
Fachleute sehen das ähnlich. "Der Wegfall von Teilen des Ukraine-Transits fällt für Deutschland mengenmäßig kaum ins Gewicht", sagt Experte Schröder im Gespräch mit tagesschau.de. Durch Nord Stream 1 könne ein Großteil des russischen Gases konstant und stabil nach Deutschland fließen. Das seien etwa 150 bis 160 Millionen Kubikmeter pro Tag. "Zudem haben die deutschen Gasspeicher mit fast 39 Prozent mittlerweile wieder einen gesunden Füllstand."
Wo könnte es in Europa zu Problemen kommen?
Derzeit sei es "eher die europäische Versorgungssicherheit, auf die man schauen muss - vor allem in Südosteuropa", sagte die Energie-Expertin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung im tagesschau24-Interview. Das meint auch Experte Schröder: "Länder wie Österreich, Italien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien oder Bulgarien sind vom Ukraine-Transit abhängig". Schätzungen zufolge bezieht Italien 40 Prozent des russischen Gases über die Ukraine.
Die Versorgungssicherheit sieht Kemfert jedoch auch in diesen Staaten nicht gefährdet. Zum einen sinke der Gasverbrauch im Frühling. Zum anderen komme die Entwicklung nicht überraschend. "Es ist eigentlich ein Wunder, dass bisher trotz des Krieges noch keine Beeinträchtigungen stattgefunden haben." Deshalb hätten die Staaten Vorsorge getroffen - etwa mit dem Bau von Flüssiggasterminals oder der Diversifizierung von Importen.
Die russische Seite hat zugesichert, dass das Gas weiter normal nach Europa fließe. "Russland hat immer zuverlässig seine vertraglichen Verpflichtungen erfüllt und hat weiter vor, sie zu erfüllen", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow.
Der österreichische Regulator E-Control meldete, dass am Übernahmepunkt Baumgarten derzeit zwar ein leicht gesunkener Gasfluss verzeichnet werde. Für die Versorgung mit Gas habe dies aber im Moment keinerlei Auswirkungen, sagte eine Sprecherin der Nachrichtenagentur Reuters. Der österreichische Energiekonzern OMV teilte zudem mit, er erhalte seine Gaslieferungen gemäß seiner Bestellungen.
Ist eine Umleitung des Gases möglich?
Der ukrainische Netzbetreiber betonte, der Gasfluss könne über den nördlicheren Sudzha-Knotenpunkt geleitet werden. Sokhranivka und Sudzha sind die beiden Schlüsselpunkte an der Grenze zwischen Russland und der Ukraine, die Ströme von Gazprom für den Transit nach Europa erhalten. Gestern gingen 27 Prozent der Ströme durch Sokhranivka, der Rest durch Sudzha (77 Millionen Kubikmeter pro Tag).
Auch das staatliche Energieunternehmen Naftogaz erklärte, es habe angeboten, das Gas über den anderen Knoten umzuleiten. Der Wechsel bereite demnach keine technischen Schwierigkeiten und keine zusätzlichen Kosten für Russland. Laut Gazprom ist die Umleitung allerdings technisch nicht möglich. Kremlsprecher Preskow gab heute keine klare Antwort auf die Frage, ob Russland alternative Transitrouten erwäge, um die wegfallende Menge zu kompensieren.
Gasexperte Schröder zufolge läuft die Umleitung über Sudzha bereits. "Russland behauptet, eine einfache Umleitung sei nicht möglich. Das stimmt vielleicht für die Gesamtmenge - nicht aber für Teile davon." Denn aus den Daten von GTSOU gehe hervor, dass seit heute Morgen etwa sieben Millionen Kubikmeter pro Tag von Sokranivka über Sudzha umgeleitet werden. Die restlichen 16 bis 24 Millionen Kubikmeter des Transitgases fehlten. Dennoch ein kleiner Schritt: "Durch die Umleitung umfasst der Stopp immerhin nur noch etwas weniger als ein Viertel des russischen Gases, das durch die Ukraine fließt."
Gibt es andere Alternativen?
"Wenn Gazprom die Umleitung nicht will, könnte das Unternehmen auch mehr Gas durch Polen leiten, um seine Lieferverträge zu erfüllen", sagt Zachmann von der Denkfabrik Bruegel. Auch Schröder sieht das als einen möglichen Weg. Russland könne "die polnische Jamal-Export-Route wieder nutzen". Dort sei der Gastransitfluss erst kürzlich versiegt.
"Wir sehen mittlerweile am Übergabepunkt Mallnow, dass wieder Netto-Gasflüsse von Polen nach Deutschland gebucht werden", so Schröder. Das sei ein Indiz für eine Nutzung der Jamal-Pipeline durch Russland. Es bestehe zudem die Möglichkeit, von Russland über die Südroute in die Türkei zu liefern.
Wie geht es weiter - und was ist mit den Gaspreisen?
"Was jetzt morgen passiert oder in einer Woche - das ist ja noch unklar", sagte eine Sprecherin des Wirtschaftsministeriums. Man könne aus der aktuellen Entwicklung noch keine Schlüsse für die Zukunft ziehen, auch Voraussagen zu Preisentwicklungen seien nicht möglich.
Bislang sei kein nennenswerter Anstieg der Großhandelspreise zu verzeichnen, erklärte die Bundesnetzagentur. "Es ist ein zusätzliches Risiko für den weiteren Fluss von russischem Gas nach Europa, aber der Markt hat bereits ein gewisses Risiko einer Unterbrechung eingepreist", sagte James Huckstepp, Analyst bei S&P Global Commodity Insights, der "Financial Times". Es sehe nicht so aus, als ob irgendwelche Kunden abgeschnitten werden.