Wissenschaften in Russland Repression und Abschottung
Verfolgte Wissenschaftler, kein Zugang mehr zu internationalen Fachjournalen, ein "Brain-Drain": Die Sanktionen und die zunehmende staatliche Repression haben der russischen Wissenschaft einen schweren Schlag versetzt.
Als er in dem vergitterten Polizeiwagen saß, ahnte er schon, dass ihn sein Protest dieses Mal den Job kosten könnte. Doch dass sich seine Universität später noch nicht einmal die Mühe machen würde, einen Vorwand für seine Kündigung zu finden, überraschte den Universitätsdozenten Denis Skopin dann mehr als alles andere.
Proteste gegen Teilmobilmachung
Es ist der 21. September: Wladimir Putin erklärte am Vormittag die Teilmobilmachung. 300.000 Reservisten sollen, so kündigte die russische Regierung an, eingezogen werden. Der dazugehörige Präsidentenerlass ist nur eine Seite lang und stößt zum ersten Mal seit Anfang März wieder kleinere Proteste im ganzen Land an.
In St. Petersburg geht Skopin auf die Straße. Er unterrichtet an der Staatlichen Universität St. Petersburg Philosophie im Studiengang "Liberal Arts" - einem Modellstudienfach ohne Frontalunterricht, wie Skopin stolz erzählt, mit vielen Studierenden aus dem Ausland und einem oppositionell eingestellten Kollegium.
Kündigung wegen "unmoralischen Verhaltens"
Doch weil die Proteste zu klein sind, so Skopin, werden am Ende so gut wie alle festgenommen. Der Universitätsdozent landet zusammen mit vielen anderen in einem "Avtozak", einem der berüchtigten Gefangenentransporter, die am Rande jeder Demonstration auf ihren Einsatz warten. Skopin kommt in Untersuchungshaft. Es folgt ein rascher Gerichtsprozess, zehn Tage Gefängnis und etwa einen Monat später dann die Kündigung. Er darf nicht mehr an der St. Petersburger Universität arbeiten, wegen "unmoralischen Verhaltens".
Am 24. Februar - dem Tag des Kriegsbeginns - hätte alles an der Universität ein Ende gehabt, erzählt der Dozent, schiebt sich dabei immer wieder die schwarze Brille auf die Nase und ringt um Fassung. 30 bis 40 Prozent des Kollegiums hätten gekündigt oder seien entlassen worden, schätzt der Wissenschaftler. Die Mehrheit davon sei längst im Ausland. Manch anderer, der geblieben sei, warte nur auf das Ende des Studienjahres, um dann zu gehen.
Kein Zugang mehr zu Fachjournalen
Konnten sich Universitäten schon vor Beginn der sogenannten militärischen Spezialoperation nicht den Zugang zu allen wissenschaftlichen Veröffentlichungen leisten, sind jetzt so gut wie gar keine Wissenschaftsjournale mehr offiziell in Russland lesbar. Selbst Eliteuniversitäten wie die in St. Petersburg hätten ihre teuren Lizenzen nun gekündigt, erzählt Skopin.
Schon Anfang März erklärte die russische "Union der Rektoren" in einem offenen Brief ihre Unterstützung für die "Spezialoperation" in der Ukraine. Das vorrangige Ziel der Universitäten sei es, dem Staat zu dienen. Man müsse sich nun "um unseren Präsidenten" vereinen. Der Brief endet mit: "Zusammen sind wir stark!"
Ausstieg aus Bologna-System
Im Mai kündigte Russland dann an, das Bologna-System nach knapp 20 Jahren zu verlassen. Durch die Vergleichbarkeit der Bildungsprogramme in fast 50 Ländern vereinfachte das System die Mobilität im Hochschulbereich und den wissenschaftlichen Austausch.
Russland wolle nun sein "eigenes, einzigartiges Modell der Hochschulbildung" entwickeln. So erklärte der Leiter des Ministeriums für Hochschulbildung und Wissenschaft den Ausstieg aus Bologna gegenüber der russischen Zeitung Kommersant. Was das genau bedeuten könnte, zeigte sich Ende Oktober: In der Schwarzmeerstadt Sotschi trafen sich mehr als 200 Wissenschaftler und Vertreter akademischer Institutionen zur allrussischen Wissenschaftskonferenz. Ihr Titel: "DNK Rossija", zu deutsch: die DNA Russlands.
Neues Pflichtfach zur Förderung von "Patriotismus"
Auf der "DNA"-Konferenz wurde unter anderem die Einführung eines neuen Pflichtfaches beschlossen. Dessen Titel: "Grundlagen der russischen Staatlichkeit". Ziel des Kurses sei es laut Alexander Kharichev, der die Einführung vonseiten der Präsidialverwaltung koordiniert, Werte zu vermitteln, die im nationalen Interesse Russlands seien: "Patriotismus, Bürgervertrauen, Zustimmung, Solidarität und Familie".
Den Dozenten Skopin erinnert das an die Hochschulbildung aus Sowjetzeiten, als alle am Kurs "Wissenschaftlicher Kommunismus" teilnehmen mussten. Eine Disziplin, so Skopin, die niemand ernst nahm. Dennoch wird an Schulen im heutigen Russland längst ein ähnliches Fach verpflichtend unterrichtet: "Gespräche über das Wichtige". Das Äquivalent für Universitäten soll im kommenden Jahr beginnen.
Wissenschaftler als "ausländische Agenten"
Gleichzeitig sind schon jetzt viele Fälle verfolgter Wissenschaftler bekannt. Zum einen wird fast jeden Freitag die Liste "ausländischer Agenten" erweitert. Darunter findet sich die vom russischen Staat mit einem Ehrentitel ausgezeichnete Historikerin Tamara Eidelman, ebenso Dozenten russischer Elite-Universitäten wie das Moskauer Institut für Internationale Beziehungen MGIMO oder die Higher School of Economics in der Hauptstadt.
Um zum ausländischen Agenten erklärt zu werden, reicht die "Finanzierung" aus dem Ausland. Das heißt, wer ein Paper in einem ausländischen Fachjournal veröffentlicht und dafür Honorar bekommt, erfüllt zumindest in der Theorie bereits die Vorgaben. "Ausländische Agenten" dürfen in Russland in staatlichen Bildungseinrichtungen nicht unterrichten.
Anklage wegen Hochverrats
Hinzu kommen Fälle wie der von Alexander Shiplyuk. Anfang August wurde bekannt, dass der Direktor des Instituts für Theoretische und Angewandte Mechanik der Russischen Akademie der Wissenschaften festgenommen und angeklagt wurde, offenbar wegen Hochverrats. Ähnliche Fälle gab es bereits vor Kriegsbeginn im Februar. Einem Gerücht zufolge soll der Leiter der Russischen Akademie der Wissenschaften deswegen höchstpersönlich bei Präsident Putin vorstellig geworden sein.
Die Fakultät von Skopin, dem gekündigten Dozenten aus St. Petersburg wurde mittlerweile de facto aufgelöst. Sein Studiengang "Liberal Arts" umbenannt und umstrukturiert. Auch Skopin wird jetzt nach Berlin gehen und dort lehren. Auch wenn er das nie wollte, erzählt der Dozent mit Tränen in den Augen: "Ich bin davon nicht besonders begeistert. Ich will nicht. Aber ich habe einfach keine anderen Möglichkeit."