Psychosomatische Beschwerden Von wegen alles Einbildung
Beim Begriff "psychosomatisch" schwingt für viele Patienten der Vorwurf mit, ihre Symptome seien eingebildet oder gar vorgetäuscht. Dabei sind Beschwerden ohne klare körperliche Ursache weit verbreitet - und gut behandelbar.
Rebecca ist zwölf Jahre alt, als sie plötzlich Verdauungsprobleme bekommt. Obwohl sie nie Probleme damit hatte, hat sie auf einmal jeden Tag mit Bauchschmerzen und Durchfällen zu kämpfen. "Das kam so abrupt, dass ich tatsächlich anderthalb Jahre am Stück krankgeschrieben war und auch nicht mehr zur Schule gehen konnte", erzählt die heute 21-Jährige.
Ihr erster Weg führte Rebecca damals zum Hausarzt. Der fand keine Erklärung für ihre Beschwerden und verwies sie für eine Darmspiegelung an den Gastroenterologen. Auch hier: Kein auffälliger Befund, also wurde sie wieder zurück zum Hausarzt geschickt. Der stellte ihr die Diagnose Reizdarm-Syndrom, eine funktionelle Störung zwischen vegetativem Nervensystem und der Darmmuskulatur.
Jede Art von Symptom ist möglich
Damit hatte Rebecca vergleichsweise Glück, denn oft müssen Patienten mit funktionellen Beschwerden einen langen Weg von Facharzt zu Facharzt auf sich nehmen, bis sie eine passende Diagnose erhalten. "Wir haben immer noch das Problem, dass häufig sechs bis sieben Jahre vergehen, bevor Patienten überhaupt in spezialisierte Behandlung kommen", sagt Florian Junne, Klinikdirektor der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Magdeburg.
Dabei kann fast jedes Symptom von Schmerzen über Schwindel bis zu Übelkeit funktionell begründet sein, so Junne. "Sie haben dann vielleicht jemand, der sagt, ich habe ein Kribbeln überall im Körper, ich habe Bauchschmerzen, ich habe Gliederschmerzen."
Rückenschmerzen aus dem Nichts
Bei Grete waren es Rückenschmerzen. "Also aus dem Nichts", beschreibt die Hamburgerin ihre Erfahrung. "Ich bin immer sportlich aktiv gewesen. Also hat mich das natürlich sehr überrascht, und ich war ein bisschen schockiert." Vor allem, als es nicht besser wurde. Um die Schmerzen abzuklären, besucht sie mehrere Orthopäden.
"Der erste Arzt meinte, es wäre vermutlich ein Bandscheibenvorfall. Der zweite Arzt sagte, es wäre eventuell eine Bandscheibenvorwölbung, also ein bisschen weniger schlimm." Grete bekommt Physiotherapie verschrieben, die sie monatelang macht, nimmt Schmerzmittel. Nichts bringt eine langfristige Verbesserung. Die 45-Jährige, die das Tanzen geliebt hat, muss es aufgrund der Schmerzen aufgeben. "Die Welt wurde immer kleiner. Man ging dann nur zum Arzt und zur Arbeit und das war's."
Vorwurf der Simulation
Sowohl Grete als auch Rebecca haben Symptome, die ihren Alltag teilweise stark beeinträchtigen. In Röntgenbildern oder Blutuntersuchungen zeigen sich aber keine Auffälligkeiten, die ihre Beschwerden ausreichend erklären, und konventionelle Therapien schlagen nicht an. "Es gibt Leute, die dann denken, diese Beschwerden sind eingebildet", sagt Constanze Hausteiner-Wiehle, Oberärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der BG Unfallklinik in Murnau.
"Patienten haben mit verschiedenen Vorurteilen zu kämpfen, etwa sie seien 'Simulanten', oder sie bekommen gesagt, 'Reiß´ dich zusammen' - und das ist richtig fatal", so Hausteiner-Wiehle. Sie ist eine der Autorinnen der S3 Leitlinie zur Behandlung funktioneller Körperbeschwerden. Dieser Leitlinie zufolge sind funktionelle Symptome der Grund für 20 bis 50 Prozent der Besuche bei Hausarztpraxen.
Komplexes Wechselspiel biopsychosozialer Faktoren
Der Vorwurf der Einbildung stigmatisiere die Patienten, sagt die Oberärztin. Und er hat außerdem mit der Realität nichts zu tun. "Das System unseres Organismus' funktioniert nicht so simpel, dass A immer zu B führt, sondern A, B und C hängen mit D, E und F in Wechselwirkung zusammen." Demnach entstehen funktionelle Beschwerden durch ein komplexes Wechselspiel aus körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren.
Jeder Mensch erlebe in seinem Alltag funktionelle Symptome. Dazu zähle zum Beispiel die Übelkeit vor einem großen Vortrag, die geröteten Wangen in einer unangenehmen Situation oder der sogenannte Erwartungshochdruck. "Da sitzt man beim Doktor und hat an sich einen niedrigen Blutdruck. Und dann hat man vielleicht irgendwie mal unangenehme Erfahrungen beim Arzt gemacht und der Blutdruck geht hoch in dem Moment, wo der reinkommt", erklärt Hausteiner-Wiehle.
In diesem Fall könne man die Reaktion des Körpers sogar mit medizinischen Geräten messen, obwohl der Auslöser nicht etwa eine Erkrankung des Herzkreislaufsystems ist. "Daran kann man ablesen, was das Funktionelle ist in unserem Organismus: zum Beispiel Aufmerksamkeitslenkung, Anspannung, körperbezogene Erfahrungen oder Erwartungen."
Ein Software-Fehler im Gehirn
Bei chronischen Beschwerden gibt es oft tatsächlich einen ersten eindeutig körperlichen Auslöser wie eine Verletzung oder eine Infektion. "Und unter dem Einfluss verschiedener begünstigender Umstände kann sich daraus eine anhaltende oder wiederkehrende Dysregulation im Körper entwickeln", erklärt Stoyan Popkirov, Facharzt für Neurologie an der Uniklinik in Essen. Zu diesen begünstigenden Umständen zählen demnach beispielsweise eine hohe Stressbelastung oder eine psychische Erkrankung.
Diese Faktoren können dazu führen, dass die Reizverarbeitung im Gehirn gestört wird. So werden auch dann noch Schmerzen wahrgenommen, wenn der körperliche Auslöser nicht mehr gegeben ist. "Vereinfacht kann man funktionelle Störungen in der Abgrenzung zu strukturbedingten Erkrankungen als Software-Probleme im Gegensatz zum Hardware-Schaden bezeichnen", sagt Popkirov. In dieser Analogie ist der chronische Schmerz oder das chronische Symptom eine Fehlwahrnehmung in der Software des Gehirns.
Die kann man teilweise sogar bildlich darstellen. So haben britische Wissenschaftler bereits 2010 mithilfe funktioneller MRTs Unterschiede in der Hirnaktivität von Patienten mit funktionellen neurologischen Symptomen und einer gesunden Kontrollgruppe nachgewiesen.
Ein weibliches Phänomen?
Auch wenn medizinische Klischees wie das der "Weiblichen Hysterie" heutzutage in keinem Lehrbuch mehr zu finden sind, leiden Frauen häufiger als Männer unter funktionellen Beschwerden. Gleichzeitig haben sie es schwerer, im Gesundheitssystem mit diesen Beschwerden ernst genommen zu werden.
"Es gibt schon dieses Abziehbild vom männlichen Doktor mit einem heroischen, rein technischen Medizinverständnis, der einem Phänomen gegenübersteht, das er nicht kapiert, weil er es nicht messen kann", bestätigt Hausteiner-Wiehle. "Und der dann den schwarzen Peter rüberschiebt und so etwas sagt wie 'weibliche Überempfindsamkeit.'"
Das kann negative Auswirkungen auf die Behandlung haben, wenn es dazu führt, dass Ärzte die Patientinnen nicht ernst nehmen. In einer Studie aus Schweden zeigten Wissenschaftler zum Beispiel, dass männliche Ärzte doppelt so häufig Beruhigungsmittel für die Behandlung weiblicher Patienten mit Reizdarmsyndrom empfahlen wie Ärztinnen.
Wieso mehr Frauen betroffen sind, ist nicht abschließend geklärt. Ein Grund könne aber sein, dass Frauen durchschnittlich anders mit Beschwerden umgingen. "Frauen reden eher über das, was in ihnen los ist und gehen eher zum Arzt", so die Oberärztin. "Die andere Seite ist nämlich: Wir haben ein Riesenproblem in der Medizin mit Männern, die nicht zum Arzt gehen, die ihre Beschwerden verharmlosen und ihre Sorgen wegtrinken. Zudem ist es auch so, dass Frauen, zumindest in Friedenszeiten, tendenziell mehr belastende Lebenserfahrungen mitbringen als Männer." Und diese wiederum erhöhten das Risiko für funktionelle Beschwerden.
Positive Körpererfahrungen ermöglichen
Für funktionelle Körperbeschwerden gibt es nicht ein Medikament, das hilft. Stattdessen muss die Therapie multimodal ausgerichtet sein. Bei chronischen Schmerzen kann das beispielsweise bedeuten, dass mit Physiotherapie und Schmerzmitteln gearbeitet, gleichzeitig aber auch nach möglichen Stressfaktoren im Umfeld gesucht wird.
"Wir versuchen, die Erkrankung im biopsychosozialen Kontext zu verstehen und dann ein Krankheitsmodell mit den Patienten gemeinsam zu erarbeiten", erklärt Junne aus Magdeburg. Es sei wichtig, neue positive Körpererfahrungen zu ermutigen, sagt auch Hausteiner-Wiehle. Die Patienten sollen erleben, dass ihr Körper funktioniert und sie sich wieder auf ihn verlassen können. "Da kann man natürlich in einer Psychotherapie drüber reden, aber hauptsächlich muss man es wieder erleben. Es ist wichtig, positiv, aktiv und erlebnisbezogen zu therapieren, zum Beispiel durch eine Kombination von Physiotherapie und Psychotherapie."
Was tun, wenn man selbst betroffen ist?
Grundsätzlich müssten Beschwerden jeder Art zuerst körperlich abgeklärt werden, sagt Neuologe Popkirov. Das beginnt beim Hausarzt, der Patienten dann bei Bedarf an den entsprechenden Facharzt weiterleiten kann. Werden keine körperlichen Ursachen für die Beschwerden gefunden, sei es trotzdem empfehlenswert, bei den Fachärzten in Behandlung zu bleiben, dem die Symptome zugeordnet sind.
"Mit Herzrasen also beim Kardiologen, mit Reizdarm beim Gastroenterologen, mit Schwindel beim Neurologen", so Popkirov. "Denn das sind die Leute, die solche Patienten häufig sehen, die eine Diagnose sicherstellen können, die eine alternative Erkrankung nicht übersehen würden und dann Ratschläge geben können, wie es weitergeht." Das kann bedeuten, eine Physiotherapie oder Psychotherapie zu beginnen oder auch eine psychosomatische Reha zu machen. Außerdem können sich Patienten an psychosomatische Institutsambulanzen wenden.
Hoffnung auf Besserung
Nachdem Grete beim dritten Arzt, einem Spezialisten für Rückenschmerzen, die Auskunft erhielt, dass ihr Rücken keine körperlichen Schäden aufweist, begann sie langsam wieder mit dem Tanzen. Sie arbeitete mit einem Psychotherapeuten zusammen, der auf Schmerzerkrankungen spezialisiert ist. Außerdem begann sie selbstständig mit Übungen zum Brain Retraining und zur Regulierung des Nervensystems. Und ihre Welt wurde wieder größer.
Dabei waren ihre Symptome echt, betont Grete. "Es ist nichts eingebildet." Auch Rebecca ärgert sich über dieses immer noch verbreitete Missverständnis und wünscht sich mehr Verständnis für funktionelle Erkrankungen. Denn das Unverständnis, dass Betroffenen von Angehörigen und teilweise auch Ärzten entgegengebracht wird, kann zur enormen Belastung werden.
"Leider gibt es bei chronischen Schmerzpatienten eine erhöhte Suizidrate", bestätigt Hausteiner-Wiehle. Dabei ist die Chance auf Verbesserung und Heilung bei einer angemessenen Behandlung gut. So wie bei Grete. Sie hat heute keine chronischen Rückenschmerzen mehr und unterstützt als Heilpraktikerin für Psychotherapie andere Menschen mit psychosomatischen Beschwerden.
Auch Rebecca hat einen Weg gefunden, mit ihrem Reizdarmsyndrom zu leben. Mithilfe einer Psychotherapie und zeitweise einem Antidepressivum ist sie zwar nicht vollkommen frei von Beschwerden. Aber sie weiß jetzt, was ihre Symptome auslöst und kann wieder am Leben teilnehmen. Nachdem sie zu Beginn ihrer Erkrankung über ein Jahr nicht in die Schule gehen konnte, wird sie im Sommer ihre Ausbildung beenden.