Debatte in Deutschland Was folgt aus dem Messerangriff?
Warum war der Angreifer noch in Deutschland? Welches Motiv hatte er? Und wer hat Fehler gemacht? Nach dem tödlichen Messerangriff in Aschaffenburg diskutiert die Politik darüber, was sich ändern muss - wieder einmal.
Was ist geschehen?
Bei einem Messerangriff in einem Park in Aschaffenburg starben ein zweijähriger Junge und ein 41 Jahre alter Mann, der den Täter stoppen wollte. Drei weitere Menschen kamen schwer verletzt in ein Krankenhaus. Darunter ist auch ein zweijähriges Mädchen. Als mutmaßlichen Angreifer hat die Polizei wenige Minuten nach der Tat einen 28 Jahre alten Afghanen festgenommen. Politiker fordern nun Konsequenzen - auch im Migrationsrecht.
Was weiß man über den 28-Jährigen?
Der 28-jährige Afghane wohnte zuletzt in einer Asylunterkunft in der Region. Nach Angaben des Innenministeriums war er im November 2022 nach Deutschland eingereist. Er stellte demnach im März 2023 einen Asylantrag in Deutschland, der im Juni 2023 abgelehnt wurde. Denn nach den Dublin-Regeln ist der Staat zuständig, in dem der Geflüchtete zuerst EU-Boden betreten hat. Hier war es offenbar Bulgarien.
Was ist über das Motiv bekannt?
Die Ermittler gehen vor allem dem Verdacht nach, dass eine psychische Erkrankung des Mannes der Auslöser gewesen sein könnte. Der Afghane war vor dem Angriff laut Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) mindestens dreimal wegen Gewalttaten auffällig geworden. Jedes Mal sei er zur psychiatrischen Behandlung eingewiesen, später aber wieder entlassen worden. Demnach hatte er auch eine gerichtlich bestellte Betreuerin. Bei einer Durchsuchung seiner Unterkunft fanden Ermittler zudem Medikamente zur Behandlung psychischer Krankheiten. Eine Ermittlungsrichterin ordnete laut Medienberichten am Donnerstag eine einstweilige Unterbringung des Verdächtigen in einem psychiatrischen Krankenhaus an.
Hinweise auf ein islamistisches Motiv gibt es laut Herrmann dagegen nicht.
Warum war er noch in Deutschland?
Das Dublin-Verfahren sei nicht rechtzeitig abgeschlossen worden, so Bayerns Innenminister Herrmann. Das heißt: Die sechsmonatige Frist für eine Überstellung nach Bulgarien war verstrichen. Herrmann sieht die Schuld beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das dem Bundesinnenministerium untersteht. Das Bundesamt habe die örtliche Ausländerbehörde mit einer Verzögerung von mehreren Wochen darüber informiert, dass der Asylantrag des Afghanen nach den Dublin-Regeln in Bulgarien geprüft werden müsste, so Herrmann. Eine Überstellung dorthin vor Ablauf der entsprechenden Frist am 3. August 2024 sei dann nicht mehr zu bewerkstelligen gewesen.
Anfang Dezember habe der Mann dann selbst den Behörden - auch schriftlich - angekündigt, freiwillig nach Afghanistan zurückreisen zu wollen, sagte Herrmann. Er wollte sich angeblich beim Generalkonsulat Afghanistans in Frankfurt um die nötigen Papiere kümmern. Durch diesen Schritt sei sein Asylverfahren beendet worden, das BAMF habe ihn zur Ausreise aufgefordert. Laut Herrmann war es dem Mann bis zum Tatzeitpunkt nicht gelungen, die erforderlichen Reisedokumente zu erhalten. Direktflüge nach Afghanistan gibt es zurzeit nicht, jedoch Flugverbindungen über die Türkei.
Was bedeutet der Messerangriff für die Bundestagswahl?
Die Tat - einen Monat vor der Bundestagswahl - wirft politische Fragen auf. Zumal viele Wähler noch unter dem Eindruck der Todesfahrt von Magdeburg stehen, wo ein Mann aus Saudi-Arabien erst Drohungen veröffentlicht und dann mit einem Auto auf einem Weihnachtsmarkt sechs Menschen getötet und knapp 300 Menschen verletzt hatte.
Dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) noch am Abend der Tat die Chefs des Verfassungsschutzes, des Bundeskriminalamts und der Bundespolizei ins Kanzleramt beorderte, ist in jedem Fall ungewöhnlich. "Ich bin es leid, wenn sich alle paar Wochen solche Gewalttaten bei uns zutragen", sagt er. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) betont, aus seiner Sicht gebe es in diesem Fall weder ein Versagen des Landes noch einzelner Behörden vor Ort. Er sieht die Verantwortung bei der Bundesregierung und bezeichnet die Tat als Folge einer "falschen Migrationspolitik".
Was will die Union ändern?
Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) kündigt für den Fall seiner Wahl zum Kanzler an, am ersten Tag im Amt das Bundesinnenministerium anzuweisen, alle deutschen Grenzen dauerhaft zu kontrollieren und alle Versuche der unerlaubten Einreise zurückzuweisen. Das gelte ausdrücklich auch für Menschen mit Schutzanspruch. Die Bundespolizei, die regelmäßig Ausreisepflichtige an den Grenzen und in Bahnhöfen und Flughäfen aufgreife, müsse das Recht zum Beantragen von Haftbefehlen erhalten.
Wenn Ausreisepflichtige aufgegriffen werden, dürften sie nicht mehr auf freien Fuß kommen, sondern müssten in Ausreisegewahrsam oder Ausreisehaft genommen und so schnell wie möglich abgeschoben werden. Im Schengen-Raum sind Binnengrenzkontrollen eigentlich nicht vorgesehen. Sie können aber zeitlich begrenzt angeordnet werden. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat dies für alle deutschen Landesgrenzen im vergangenen Jahr bereits getan und auch schon angekündigt, die Kontrollen verlängern zu wollen.
Was sagen andere Politiker?
Auch Politiker von FDP, BSW und AfD fordern Verschärfungen. Vizekanzler Robert Habeck fordert "selbstkritische" Aufklärung. "Dieser Täter hätte ja entweder abgeschoben werden müssen oder zumindest kontrolliert, vielleicht in Gewahrsam gebracht werden müssen. Da sind Fehler passiert", sagte der Grünen-Kanzlerkandidat. Zu den Vorschlägen von Merz sagte er: "Alles, was die Sicherheit im Lande voranbringt und europarechtskonform und auf dem Boden unseres Grundgesetzes steht, ist ein guter Vorschlag." Einige Vorschläge, die er von Merz gehört habe, seien bereits in der Debatte gewesen und hätten dann einer sachlichen Prüfung nicht standgehalten.
Bundesinnenministerin Faeser kritisierte die Behörden in Bayern. Diese müssten erklären, warum der Täter trotz mehrfacher Gewaltdelikte noch auf freiem Fuß gewesen sei, sagte die SPD-Politikerin. "Offenbar sind in Bayern dort auch einige Dinge schiefgelaufen." Die weitere Aufklärung müsse jetzt schnell zeigen, warum dieser Täter noch in Deutschland gewesen sei und wie Polizei und Justiz vor Ort trotz seiner vorherigen Gewalttaten mit ihm umgegangen seien. "Der Rechtsstaat muss Härte zeigen. Das umfasst Behörden, Polizei und Justiz", sagte Faeser.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte, die Bundesregierung habe mit Gesetzen die Möglichkeiten für Abschiebungen erleichtert. "Aber es gibt erkennbar ein erhebliches Vollzugsdefizit", fügte er hinzu.
Welche Änderungen sind noch im Gespräch?
Die nächste Bundesregierung wird - unabhängig von der sich neu bildenden Koalition - Probleme angehen müssen, die seit Jahren ungelöst sind: Weshalb scheitern Dublin-Überstellungen auch in Staaten wie Bulgarien, die sich bei der Übernahme kooperativ zeigen? Wie kann sichergestellt werden, dass der Datenaustausch und die behördlichen Maßnahmen funktionieren, wenn es um Menschen geht, die mit Drohungen und Gewalttaten auffallen, aber nicht als Extremisten beobachtet werden? Ist die föderale Arbeitsteilung zwischen dem BAMF, den Behörden der Länder und den Ausländerbehörden vor Ort noch zeitgemäß, wenn es um die Bearbeitung von schwierigen oder eiligen Fällen geht?
Andreas Roßkopf, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP) für die Bundespolizei, sagt, der Fall habe Behördenversagen und fehlende Möglichkeiten offenbart. Aus seiner Sicht "arbeiten zu viele Behörden nebeneinander und nicht miteinander".
Gibt es aktuell Abschiebungen nach Afghanistan?
Nein. Laut Bundesinnenministerium wurden im vergangenen Jahr zwar 1.361 afghanische Staatsbürger aus Deutschland abgeschoben. Dabei ging es allerdings fast ausschließlich um Dublin-Fälle. Ende August waren mit Hilfe des Golfemirats Katar 28 männliche Straftäter aus Afghanistan in ihr Herkunftsland abgeschoben worden. Seither bemüht sich das Bundesinnenministerium - bislang allerdings ohne Erfolg - weitere Abschiebungen nach Afghanistan zu organisieren. Der Fokus liegt dabei auf Straftätern und Islamisten, die von der Polizei als gefährlich eingeschätzt werden.
Quelle: dpa