Porträts der Opfer von Hanau.

Fünf Jahre nach Terroranschlag in Hanau Viele Vorwürfe und Fragen, aber wenig Aufarbeitung

Stand: 19.02.2025 05:38 Uhr

Die Angehörigen der Anschlagsopfer von Hanau sind enttäuscht über die Aufarbeitung der rechtsextremen Tat. Bisher gab es kein Gerichtsverfahren. Neue Gutachten werfen Fragen an die hessische Justiz auf.

Von Max Bauer, ARD-Rechtsredaktion

Heute jährt sich der Terroranschlag von Hanau zum fünften Mal. Ein Rechtsextremist erschoss damals neun Menschen, danach seine Mutter und sich selbst. Schon bald nach der Tat gab es Berichte über Behördenversagen, das die rassistische Tat mit ermöglicht haben könnte. Vor dem Jahrestag haben Angehörige der Opfer nun erneut versucht, Behördenfehler vor Gericht zu bringen.  

Niculescu Păun, der Vater des ermordeten Vili Viorel Păun, erstattete Anzeige gegen hohe hessische Polizeibeamte, weil der Notruf in Hanau nicht ordnungsgemäß funktioniert hatte. Sein Sohn hatte in der Tatnacht mehrmals erfolglos versucht, die Polizei zu erreichen, während er den Täter auf dessen Fahrt zu den Tatorten in Hanau-Kesselstadt verfolgte. Kurz darauf wurde er in seinem Auto erschossen.

Auch die Familie von Hamza Kurtović hatte erneut Strafanzeige gestellt. Im Zentrum steht dabei der Notausgang am letzten Tatort, der "Arena Bar". Dort tötete der Täter Hamza Kurtović und Said Nesar Hashemi. Zuvor hatte er im angrenzenden Kiosk Gökhan Gültekin, Ferhat Unvar und Mercedes Kierpacz ermordet. Kierpacz wollte gerade eine Pizza für ihre Kinder abholen.  

Bisher kein Prozess wegen Behördenversagens

Auch die neuen Strafanzeigen blieben erfolglos, die Staatsanwaltschaft Hanau lehnte neue Ermittlungen ab. Zu den rassistischen Mordtaten von Hanau gibt es also bisher kein einziges Gerichtsverfahren. Seit dem 19. Februar 2020 ist der Täter nicht mehr am Leben, und gegen Tote wird nicht ermittelt. Doch die Frage bleibt: Warum gab es keine rechtlichen Konsequenzen für Behördenfehler?

Die Vorwürfe wiegen schwer. Vor allem der Vorwurf, dass der Notausgang der "Arena Bar" regelmäßig und auch in der Tatnacht verschlossen war - durch den Barbesitzer und unter Umständen sogar auf Anordnung der Polizei.

Polizeifahrzeuge stehen vor der "Arena Bar" in Hanau. (Archivfoto: 20.02.2020)

Die Vorgänge in der "Arena Bar" stehen im Mittelpunkt des Vorwurfs, ob es ein Behördenversagen gab.

Gutachten zum Tatkomplex "Notausgang"

Die Familie von Hamza Kurtović hat zum Tatkomplex "Notausgang" ein Gutachten bei Dennis Bock, Strafrechtsprofessor und Rechtsanwalt in Kiel, in Auftrag gegeben.

Der Barbetreiber, Hanauer Polizisten und Verantwortliche der Stadt Hanau hätten sich wegen des verschlossenen Notausgangs der fahrlässigen Tötung tatverdächtig gemacht, so der Vorwurf der Familie. Natürlich war es der rassistische Täter, der Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović in der "Arena Bar" erschossen hat. Allerdings hätte der verschlossene Notausgang die Taten mit ermöglicht, weil die Barbesucher nicht flüchten konnten.

Fahrlässige Tötung verjährt grundsätzlich nach fünf Jahren. Umso dringlicher ist zum fünften Jahrestag die Frage, warum die bisherigen Ermittlungen im Sand verlaufen sind.

Wie ist der verschlossene Notausgang rechtlich zu bewerten?

Für den Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags "steht fest, dass der Notausgang verschlossen war und die anwesenden Gäste davon ausgingen".

Die Staatsanwaltschaft Hanau und die hessische Generalstaatsanwaltschaft sehen trotzdem keinen Verdacht auf fahrlässige Tötung. Dafür müsste es nämlich die Gewissheit geben, dass die Gäste der Bar zum Notausgang gelaufen wären, wenn der offen gewesen wäre. Das könne man aber anzweifeln. Die Barbesucher hätten nämlich an der Eingangstür vorbei rennen müssen, aus der jeden Moment der Täter kommen konnte, der gerade im Kiosk drei Menschen erschossen hatte. Deshalb sei auch eine fahrlässig verschlossene Notausgangstür nicht im juristischen Sinn eine Ursache für die Tötungen.

Oliver Feldforth, HR, zu dem Gedenken der Opfer in Hanau von vor fünf Jahren

tagesschau24, 19.02.2025 14:00 Uhr

Unzutreffende Rechtsansicht der Staatsanwälte?

Das neue Gutachten hält die Rechtsansicht der Staatsanwaltschaften in Hessen für "unzutreffend". Denn wenn man sichere Gewissheit darüber fordere, dass die Gäste zum Notausgang gerannt wären, dann könne es in solchen Fällen eigentlich nie eine fahrlässige Straftat geben. Bei Katastrophen wie im Ahrtal zum Beispiel könne man auch nicht sicher sagen, ob alle Anwohner einer behördlichen Warnung folgen und sich vor einer Flut retten würden.

Dann wäre den Mitarbeitern von Behörden aber nie ein Vorwurf zu machen, wenn sie eine zu späte Warnung aussprechen. Rechtlich müsse es also ausreichen, dass man sagt: Es gibt eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass potenzielle Opfer Warnungen befolgen und sich so verhalten, dass kein Schaden eintritt.

Übertragen auf die "Arena Bar" heißt das: Bei offenem Notausgang hätten die Barbesucher die Wahl gehabt, auf einem gefährlichen Weg - an der Eingangstür vorbei - zu fliehen oder auf die Flucht zu verzichten und ganz sicher in der Falle zu sitzen. 

Laut Gutachten des Kieler Strafrechtsexperten wären die Barbesucher wahrscheinlich geflüchtet. Das hätten sie nur deshalb nicht getan, weil sie als Stammgäste der Bar wussten, dass die Notausgangstür regelmäßig verschlossen war.

Zeugen wurden nicht vernommen

Die andere Rechtsauffassung der hessischen Staatsanwälte wird von vielen Gerichten grundsätzlich geteilt. Wegen dieser Rechtsauffassung wurden jedoch wichtige Zeugen nicht vernommen, so der Vorwurf der Familie Kurtović. Auch Polizisten seien nicht ausreichend befragt worden.

In der neuen Strafanzeige steht, dass nun endlich einem beunruhigenden Verdacht nachgegangen werden müsse: Nämlich, dass ein Polizist den Barbetreiber angewiesen habe, den Notausgang stets verschlossen zu halten. Brisant ist, dass dazu auch eine schriftliche Zeugenaussage vom November 2022 vorliegt. Ein Zeuge versichert dort, dass er 2017 persönlich eine Anordnung der Polizei mitbekommen habe, den Notausgang der "Arena Bar" verschlossen zu halten.  

Der Verdacht der Familie Kurtović: Die Polizei Hanau habe durch den verschlossenen Notausgang verhindern wollen, dass bei den damals häufig stattfindenden Razzien in der "Arena Bar" jemand durch den Notausgang entkommen kann. Hintergrund für die Razzien sei das Polizeiprojekt "Kompass". Hanau sei seit 2017 für dieses Projekt eine von fünf Modell-Kommunen gewesen. Und die Polizei habe durch die vielen Razzien vermutlich gute Ermittlungszahlen präsentieren wollen.

Die Hoffnung der Familie Kurtović war, dass diese Hintergründe in einem Strafverfahren gegen Polizisten aufgeklärt werden könnten. Der Barbetreiber und die Polizei Hanau haben allerdings stets bestritten, dass es eine Anordnung zum Verschließen des Notausgangs gegeben habe.

Viele offene Fragen

Das Gutachten des Kieler Strafrechtsprofessors Dennis Bock wirft viele weitere Fragen auf. Der Vater des Täters hat Angehörige der Opfer bedroht, beschimpft und beleidigt und wurde deswegen bereits mehrfach verurteilt. Warum wurde trotzdem nicht erneut ermittelt, ob er vielleicht auch Beihilfe zu den Mordtaten geleistet hat - beispielsweise, indem er seinen Sohn bestärkte, die Taten zu begehen?

Ein weiterer Punkt: Vor seiner Tat war der Täter mehrfach mit Sicherheitsbehörden in Kontakt gekommen. Er hatte schon während seines Studiums an der Universität Bayreuth einen Wachmann körperlich angegriffen, er verbreitete rassistische Inhalte auf einer eigenen Website und auf YouTube, er stellte selbst Strafanzeigen, die sein rechtsradikales Weltbild zeigten. Und dennoch reagierte weder die Waffenbehörde, die ihm den legalen Waffenbesitz ermöglichte, noch die Bundesanwaltschaft, an die er wenige Wochen vor der Tat eine wirre Strafanzeige schickte. Im Gutachten wird die Frage gestellt, ob Behörden "Fahrlässigkeit an den Tag gelegt" hätten.

Rechtswidriges Behördenhandeln steht im Raum

Die Familie von Hamza Kurtović hat nicht nur ein strafrechtliches, sondern auch ein verwaltungsrechtliches Gutachten erstellen lassen. Okke von Kielpinski, Professor an der Fachhochschule für Verwaltung Schleswig-Holstein, geht ebenfalls davon aus, dass der Notausgang in der "Arena Bar" zum Tatzeitpunkt verschlossen war. Er betont, dass ein Notausgang aus verwaltungsrechtlicher Sicht "stets frei zugänglich" sein müsse.

Alle Behörden, die von den Problemen mit dem Notausgang in der "Arena Bar" wussten, hätten dafür sorgen müssen, dass der Notausgang immer offen ist. Die Stadt Hanau hat jedoch jede strafrechtliche oder verwaltungsrechtliche Verantwortung von sich gewiesen.

Wie geht es jetzt weiter?

Sowohl nach dem Bericht des Hanau-Untersuchungsausschusses als auch nach den neuen Gutachten der Kieler Rechtswissenschaftler bleibt die Frage dringend: Warum haben Behördenfehler beim Notausgang, beim Notruf oder bei der Waffenerlaubnis zu keinem einzigen Prozess wegen fahrlässigem Handeln von Polizisten oder Behördenmitarbeitern geführt?

Für die Familien der Ermordeten ist diese Frage am fünften Jahrestag des Anschlags frustrierend. Die Familie von Hamza Kurtović will weiter für rechtliche Aufklärung kämpfen. Sie erwägt den Gang nach Karlsruhe oder zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg. 

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 19. Februar 2025 um 04:55 Uhr.