Eine Notfallsanitäterin schiebt eine Seniorin auf einer Trage in die Notaufnahme eines Krankenhauses.

Pläne Lauterbachs Warum eine Notfall-Reform überfällig ist

Stand: 07.09.2023 07:11 Uhr

Überlastete Notaufnahmen und schlecht vernetzte Rettungsdienste: Die Probleme in der Notfallversorgung sind groß. Heute präsentiert Bundesgesundheitsminister Lauterbach Reformvorschläge.

Von Nadine Bader und Birthe Sönnichsen, ARD-Hauptstadtstudio

Notarzt Johannes Becker sitzt nicht im Rettungswagen, sondern vor mehreren Bildschirmen. Er ist Telenotarzt und schaltet sich per Videobild mit einem Team aus Rettungs- und Notfallsanitätern zusammen, das gerade im Einsatz ist. Ein zweiter Monitor zeigt die Daten vom EKG der Notfallpatienten. Becker kann sich so ein Bild vom Gesundheitszustand der Patienten machen, auch ohne direkt vor Ort zu sein. Vieles ist noch neu für Notarzt Becker und sein Team. Mitte Juli ist das Telenotarzt-Pilotprojekt der BG Klinik Ludwigshafen in Rheinland-Pfalz gestartet. Bislang sind vier Ärzte im Team, bis November sollen es 15 werden.

Die Vorteile des Projekts liegen für Telenotarzt Becker auf der Hand: Einmal geht es um die Entlastung von Rettungsteams und Notaufnahmen. "Wir können uns, salopp gesagt, um den Kleinkram kümmern", sagt Becker. Bei schweren Verletzungen reicht seine Hilfe per Video nicht, dann muss weiter ein Notarzt ausrücken. Anders ist es, wenn zum Beispiel nur der Blutdruck eines Patienten erhöht ist oder Schmerzmedikamente verabreicht werden müssen. Dann können die Notfallsanitäter vor Ort mit seiner Unterstützung per Video gut helfen. Manchmal lässt sich so auch ein Transport ins Krankenhaus vermeiden. Zum anderen geht es Notarzt Becker auch um Regionen, wo der Rettungsdienst nicht so leicht hinkommt und es immer weniger Hausärzte gibt. Hier kann Telemedizin zum Beispiel auch Menschen mit chronischen Erkrankungen helfen.

Fehlanreize bei der Finanzierung

Aber die Rettungsdienste in Deutschland sind oft schlecht miteinander vernetzt und verursachen durch immer mehr Einsätze inzwischen Kosten von mehr als acht Milliarden Euro pro Jahr. Es gibt mehr als 200 Leitstellen. Das System ist unübersichtlich mit rund 300 verschiedenen Rettungsdienstbereichen, ohne einheitliche Standards, sowie von Region zu Region anders organisiert. Die wenigsten Rettungsdienste sind digital gut ausgestattet. Leitstellen müssen teilweise lange suchen, um einen einsatzbereiten Rettungswagen oder ein passendes Bett für einen Notfallpatienten zu finden. Das liegt auch daran, dass überall zunehmend Fachkräfte fehlen.

Eine der Ursache für die starke Belastung liegt auch in Fehlanreizen bei der Finanzierung der Notfallversorgung. Rettungstransporte bekommen in der Regel nur Geld von den Krankenkassen, wenn sie Patienten auch wirklich in ein Krankenhaus transportieren. Eine reine Behandlung am Notfallort oder etwa eine Beratung am Telefon wird nicht bezahlt.

Gesundheitsminister Lauterbach will den Notfall- und Rettungsdienst reformieren

Nadine Bader, ARD Berlin, tagesschau, 07.09.2023 20:00 Uhr

Auch die Notaufnahmen sind überlastet

Janosch Dahmen kennt das System gut. Der Gesundheitspolitiker der Grünen hat lange als Notfallmediziner gearbeitet, bevor er 2020 in den Bundestag einzog. Er fordert, die Finanzierung der Rettungsdienste gesetzlich anders zu regeln. Auch, damit nicht mehr Patienten als medizinisch sinnvoll ins Krankenhaus gebracht werden. Zudem wären aus seiner Sicht andere Versorgungsangebote wie zum Beispiel Gemeindenotfallsanitäter nötig, die sich um weniger dringliche Fälle kümmern, die kein Notfall für den Rettungswagen sind. Des Weiteren mehr Notfallpflege oder psychiatrische Krisendienste, sowie insbesondere mehr telenotfallmedizinische Angebote, um Menschen mit einem akuten Problem zu helfen.

Denn auch die Notaufnahmen sind schon seit Jahren überlastet. Feuerwehr und Rettungsmediziner warnen, dass das System fast zusammenbricht. Doch die Zahl der Notfallpatienten steigt und bringt viele Notaufnahmen ans Limit. Das liegt auch daran, dass längst nicht alle Patienten wirklich ein Fall fürs Krankenhaus sind. Der Gesundheitsminister geht davon aus, dass teilweise die Hälfte der Patienten, die eine Notaufnahme aufsuchen, gar keine richtigen Notfälle sind.

Hier setzt ein Vorschlag der Regierungskommission, die den Gesundheitsminister berät, an. In Krankenhäusern sollen Integrierte Notfallzentren entstehen, die Patienten besser steuern. Diese Notfallzentren sollen aus der Notaufnahme des Krankenhauses und einer kassenärztlichen Praxis bestehen. Wer künftig in die Klinik kommt, soll, je nachdem wie schwer die Erkrankung oder die Verletzung ist, an die Notaufnahme oder die Praxis weitergeleitet werden. Für Gesundheitsminister Lauterbach ist klar, dass das Krankenhaus im Notfall auch weiterhin schnelle Hilfe anbieten muss, aber nicht für alle Fälle die erste Adresse sein kann.

Neues Leitsystem für Notrufe

Die Expertenkommission hat in einer vorherigen Empfehlung auch ein neues Leitsystem für Notrufe vorgeschlagen. Wer den Rettungsdienst (112) oder die Nummer des kassenärztlichen Notdienstes (116 117) wählt, soll auch hier bei einer neuen integrierten Leitstelle landen. Per Telefon oder Videotelefonie soll dort entschieden werden, wo die Notfälle am besten aufgehoben sind: ob zum Beispiel ein erkrankter, älterer Mensch im Pflegeheim wirklich mit dem Krankenwagen in die Notaufnahme gebracht werden muss oder sich bei leichten Symptomen besser der kassenärztliche Notdienst direkt vor Ort um den Patienten kümmern sollte. In manchen Fällen kann auch ein Termin in einer regulären Arzt-Praxis vermittelt werden oder eine telemedizinische Behandlung helfen.

Diesen Ablauf muss der Bund aus Sicht des Gesundheitspolitikers Dahmen gesetzlich einheitlich regeln. Denn wenn derzeit ein Notruf eingeht, gibt es für die Leitstellen bisher noch nicht einmal überall einen standardisierten, vorgeschriebenen Fragenkatalog. Das führt auch zur Verschwendung von Ressourcen, wenn ein Rettungswagen unnötig oder mit der falschen Dringlichkeit losgeschickt wird.

Karagiannidis fordert "echte Digitalisierungsoffensive"

All das hängt auch mit der geplanten großen Krankenhausreform zusammen, über die Bundesgesundheitsminister Lauterbach mit den Ländern seit Monaten verhandelt. Zurzeit schreiben vier Bundesländer gemeinsam mit dem Bundesgesundheitsministerium am Gesetzentwurf. Vereinfacht gesagt will Lauterbach die Versorgung, vor allem schwierigere Eingriffe, an weniger Krankenhäusern konzentrieren, um die Qualität zu verbessern. Diese Umstrukturierung und auch der wachsende Fachkräftemangel werden absehbar Klinikschließungen zur Folge haben. Experten gehen davon aus, dass ungefähr jede fünfte Klinik mit anderen zusammengelegt, umgestaltet oder geschlossen werden muss. Dann wird es umso wichtiger sein, dass das System Rettungsdienst einschließlich einer rund um die Uhr verfügbaren Luftrettung funktioniert und die Menschen sich darauf verlassen können, im Notfall in der richtigen Zeit zum richtigen Krankenhaus zu gelangen, sagt Dahmen.

Auch die Notfallversorgung wird für den Erfolg der Krankenhausreform also eine wichtige Rolle spielen. Intensivmediziner Christian Karagiannidis, Mitglied der Krankenhaus-Kommission der Bundesregierung, fordert deshalb zeitgleich eine Reform für den Rettungsdienst. "Wir müssen uns sehr stark darauf konzentrieren, dass wir die ländlichen Regionen insbesondere mit dem Hubschrauber am Tag aber auch in der Nacht gut erreichen können", sagt Karagiannidis. Entscheidend ist aus seiner Sicht auch die Stärkung der Kompetenzen von Notfallsanitätern. Damit sie vor Ort unter klar definierten Rahmenbedingungen mehr Behandlungen eigenständig vornehmen können und Patienten so schnellstmöglich die beste Therapie erhalten. Zum Beispiel, indem sie mit einem Telenotarzt zusammenarbeiten. Zudem fordert Karagiannidis eine "echte Digitalisierungsoffensive", so dass das Team im Rettungswagen sich überall gut mit einem Telenotarzt oder Notaufnahmen verbinden kann.

Eine schwierige Gemengelage

Doch die verschiedenen Zuständigkeiten machen es nicht leichter, eine Reform der Notfallversorgung umzusetzen. Die Länder werden mitreden wollen. Aus unionsgeführten Flächenländern wie Nordrhein-Westfalen und Bayern wird schon auf eigene Strukturen und Pilotprojekte verwiesen. Die Planungen auf Bundesebene müssten mit den in Nordrhein-Westfalen geschaffenen Strukturen in Einklang gebracht werden, heißt es etwa aus dem NRW-Gesundheitsministerium. In Bayern sorgt man sich im Zuge der Krankenhausreform um weitere Transportwege für Rettungsdienste. Er erwarte, dass Bundesgesundheitsminister Lauterbach seine Reformvorhaben gut aufeinander abstimme, sagt der bayerische Gesundheitsminister Holetschek.

Es ist also eine komplizierte Gemengelage, in der die Regierungskommission heute eine weitere Empfehlung für die Reform der Notfallversorgung mit dem Schwerpunkt Rettungsdienst vorlegt. Das wird sich wohl auch Telenotarzt Johannes Becker aus Ludwigshafen genau anschauen. Er hofft, dass die verschiedenen Systeme künftig besser vernetzt werden. Dass er irgendwann zum Beispiel auch direkt Termine mit Haus-, oder Fachärzten vermitteln kann, wenn ein Patient kein richtiger Notfall ist. Und er möchte mit seinem Team bald auch entlegenere Regionen fernab vom städtischen Umland mitabdecken. Zum Beispiel den Pfälzerwald. Gerade dort würde der Telenotarzt gebraucht, sagt er. Das könnte derzeit aber noch schwierig werden. Denn noch gibt es dort Gegenden ohne guten Internetzugang. Doch ohne gute Verbindung kann der Telenotarzt nicht zuverlässig arbeiten. Es gibt also noch eine Menge zu tun, nicht nur für den Gesundheitsminister.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 07. September 2023 um 14:07 Uhr.