Kaja Kallas
interview

EU-Außenbeauftragte Kallas "Wir sind stärker, als wir denken"

Stand: 15.02.2025 05:23 Uhr

Anstatt Putin alles auf dem Silbertablett zu servieren, sollte der Westen den Druck auf Russland erhöhen, sagt die EU-Außenbeauftragte Kallas im Exklusiv-Interview. Europa sollte dabei nicht die eigene Bedeutung und Stärke unterschätzen.

tagesschau.de: Nach allem, was wir in den letzten Tagen erlebt haben, drängt sich der Verdacht auf, dass die USA gerade versuchen, die Sicherheitsarchitektur Europas neu zu formen - nur ohne Europa. Stimmt dieser Eindruck?

Kaja Kallas: Wir haben sehr gemischte Botschaften gehört, das stimmt. Wenn man sich US-Präsident Trumps Telefonat mit Russlands Präsident Putin anschaut, dann reden sie in der Tat über die Sicherheitsarchitektur Europas.

Aber jede Art von Deal hinter unserem Rücken wird nicht funktionieren. Für jede Art von Friedenslösung für die Ukraine brauchen sie die Europäer, aber auch die Ukraine, um das umzusetzen. Sonst funktioniert das nicht.

"Die Europäer werden gebraucht"

tagesschau.de: Aber wenn man sich die Gespräche über die Zukunft der Ukraine und einen möglichen Frieden in der Ukraine anschaut, dann sitzen die Europäer da bislang nicht mit am Tisch.

Kallas: Die neue US-Administration kommt gerade erst ins Amt, und wir haben auch hier in München viele Treffen mit Abgesandten aus den USA. Natürlich können wir nicht darüber bestimmen, mit wem Präsident Trump spricht.

Aber wenn es zu echten Verhandlungen kommt oder einer Art von Friedensschluss, dann werden die Europäer gebraucht. Wir müssen unseren Platz gar nicht einfordern. Aber kein Deal wird ohne uns funktionieren. Also ist das im Interesse aller.

Was ich aber betonen will: Wir legen den Fokus zu sehr auf unsere Seite. Das eigentliche Problem liegt jedoch darin, dass Putin keinen Frieden möchte. Sie haben keine Truppen zurückgezogen, sie haben von ihren Zielen nicht Abstand genommen. Wir müssen Putin unter Druck setzen.

"Müssen jetzt unsere Stärke mobilisieren"

tagesschau.de: Nochmal zurück zu Europa: Wie wollen Sie das Trump-Team davon überzeugen, dass Europa mit am Tisch sitzen muss? Was können Sie in die Waagschale werfen?

Kallas: Wenn Sie dieses Gedankenexperiment durchführen: Wie kann ein Deal ohne Europa funktionieren? Dann werden Sie zu der Lösung kommen, dass Europa dem zustimmen muss. Es kann nicht sein, dass Russland die ukrainischen Gebiete bekommt, die USA die Bodenschätze und Europa die Zeche zahlt für die Friedenssicherung. Das funktioniert nicht. Wir müssen jetzt unsere Stärke mobilisieren.

"Es ist keine gute Verhandlungsstrategie"

tagesschau.de: Trump hat offensichtlich schon vorab einige Dinge abgeräumt: Er hat die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ausgeschlossen, er hat auch US-Truppen zur Absicherung der Ukraine ausgeschlossen. Ist das eine durchdachte Verhandlungsstrategie?

Kallas: Es ist keine gute Verhandlungsstrategie, wenn man der anderen Seite gibt, was sie unbedingt will oder deren Hauptforderungen vorab erfüllt. Sie begeben sich in keine starke Verhandlungsposition, wenn sie da sofort nachgeben. Wir müssen genau verstehen, wovor Russland Angst hat und nicht nur, was es will.

Wir sollten aus einer Position der Stärke verhandeln. Wenn man sich Europa und die USA zusammen anschaut, unsere Wirtschaftskraft kombiniert mit der unserer transatlantischen Partner, dann ist die siebzehn Mal größer als die Russlands. Wir sind stärker. Wir sollten nicht unsere eigene Macht untergraben.

tagesschau.de: Sie haben für die US-Strategie und den Umgang mit Putin sogar den Begriff "Appeasement" gebraucht, was uns an das Jahr 1938 erinnert. Ist dieser Begriff sinnvoll in diesem Kontext?

Kallas: Wenn Sie sich ansehen, dass man hier einem Aggressor, der dreist ein anderes Land angreift, auf dem Silbertablett serviert, was er will, dann belohnt man damit den Aggressor. Russland hat verlangt, die Sicherheitsarchitektur neu zu gestalten, sie haben ukrainisches Territorium beansprucht und wollen, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt.

USA sollen sich mit "Bedrohungen auseinandersetzen, die von außen kommen"

tagesschau.de: Sie hatten jetzt die Möglichkeit, erstmalig Kontakte zum Trump-Team zu knüpfen. Sie haben US-Vizepräsident JD Vance diese Woche getroffen. Er hat bei der Sicherheitskonferenz eine Rede gehalten, in der er den Europäern einen Vortrag darüber gehalten hat, wie Demokratie funktioniert. Wie ist Ihr erster Eindruck?

Kallas: Meinungs- und Pressefreiheit sind fundamentale Rechte in der EU. Das sind die Werte, für die wir stehen. Wenn Sie sich in der EU umsehen, dann blüht da die Demokratie. Hier in Deutschland gibt es bald Wahlen mit unterschiedlichen Parteien. Wir haben unterschiedliche innenpolitische Herausforderungen - und um die kümmern wir uns selbst.

Was wir von unseren transatlantischen Partnern erwarten, ist, dass sie sich mit den Bedrohungen auseinandersetzen, die von außen kommen: Von Russland, Nordkorea, Iran und etwas verdeckter China, die zusammen gegen Demokratien vorgehen, gegen unsere Gesellschaften. Auf diese Bedrohungen sollten wir uns mit unseren transatlantischen Partnern konzentrieren.

"Wenn Sie in Amerika leben, haben Sie nettere Nachbarn als wir hier"

tagesschau.de: Vance scheint darin aber nicht die wahre Bedrohung zu sehen und sagt, die echte Bedrohung komme von innen. Sind die USA und Europa überhaupt noch Partner?

Kallas: Wir hatten viele produktive Treffen mit verschiedenen Abgesandten, und ich habe Vizepräsident Vance vor einigen Tagen getroffen und auch schon davor. Ich bin mir sicher, dass er die selben Werte respektiert.

Aber es ist auch wahr, dass die historische Erfahrung eine andere ist: Wenn Sie in Amerika leben, haben Sie sehr viel nettere Nachbarn als wir hier. Also spürt man vielleicht diese Bedrohung nicht. Aber wir sind die Mächte, die die multinationale Ordnung geschützt haben, wo nicht das Recht des Stärkeren zählt. Und diese Allianz müssen wir aufrechterhalten.

Russland muss "seinen letzten kolonialen Krieg verlieren"

tagesschau.de: Trump hat auch vorgeschlagen, Putin wieder an den G7-Tisch zu holen, also daraus wieder die G8 zu machen. Ist die EU bereit, da mitzugehen?

Kallas: Das geht in die falsche Richtung. Wir brauchen jetzt die politische Isolation Russlands für das, was sie getan haben. Bevor sie nicht Wiedergutmachungszahlungen an die Ukraine leisten für den verursachten Schaden und bevor sie nicht den Krieg stoppen, sollten wir über solche Dinge nicht reden. Denn sonst werden wir noch mehr Kriege erleben.

Schauen Sie in die Geschichte zurück: Damit ein Land auf den richtigen Weg gerät, muss es seinen letzten kolonialen Krieg verlieren. Russland hat nie seinen letzten kolonialen Krieg verloren, es ist also an uns, dafür zu sorgen, dass das passiert. Vorher können wir nicht zum Alltag mit ihnen übergehen.

Putin politisch isolieren

tagesschau.de: Bleiben wir noch bei Russland: Sie erwähnten, dass die wahre Hürde darin bestünde, Putin an den Verhandlungstisch zu bekommen. Sehen Sie bei ihm echten Willen zu verhandeln? Und wie weit sind wir vom Frieden entfernt?

Kallas: Das hängt von dem ab, was wir tun. Putin glaubt, dass die Zeit für ihn arbeitet. Und wenn ihm alles auf dem Silbertablett serviert wird, dann ist er in der stärkeren Position.

Aber wir sollten sicherstellen, dass wir ihn politisch isolieren und auch wirtschaftlich unter Druck setzen. Wir arbeiten gerade an einem neuen Sanktionspaket, weil wir sehen, dass das der russischen Wirtschaft wirklich wehtut. Also sollten wir da weitermachen, damit sie das Gefühl bekommen, dass sie sich an den Verhandlungstisch setzen müssen. Derzeit ist das nicht der Fall.

"Heute in der gleichen Situation" wie 1938

tagesschau.de: Das heißt, wir sind noch weit von einem Frieden in der Ukraine entfernt?

Kallas: Das hängt von uns ab. Wenn wir uns die Wirtschaft in Russland ansehen, dann sind ihre nationalen Mittel fast vollkommen aufgebraucht. Sie haben nicht dieselben Erträge aus dem Öl- und Gasverkauf wie früher. Die Zinsrate der Nationalbank liegt bei über 20 Prozent. Arbeiter werden entlassen, der Arbeitsmarkt ist in schlechter Verfassung.

Wir sind stärker, als wir denken. Und sie sind schwächer, als wir denken. Also sollten wir unsere Macht nicht unterschätzen und unsere Anstrengungen und unseren Zusammenhalt verstärken.

tagesschau.de: Aber brauchen wir neben wirtschaftlichem Druck nicht noch mehr? Ist nicht auch mehr militärischer Druck nötig?

Kallas: Wir müssen der Ukraine so helfen, dass sie sich selbst verteidigen kann. Die Ukrainer werden jeden Tag bombardiert, die Zivilisten leben jeden Tag in Angst. Sie müssen wir verteidigen.

Die geschichtliche Parallele zu 1938 könnte sein, dass die Tschechen damals entschieden haben, sich zu wehren. Und die einzige Aufgabe darin bestand, sie zu unterstützen mit militärischen Mitteln und Geld, damit sie damit einen Weltkrieg verhindern. Und ich denke, wir sind heute in der gleichen Situation: Die Ukraine kämpft auch für Europa.

Das Gespräch führte NDR-Sicherheits- und Verteidigungsexperte Kai Küstner. In voller Länge ist es im NDR-Info-Podcast "Streitkräfte und Strategien" zu hören. Für die schriftliche Version wurde es überarbeitet.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 14. Februar 2025 um 06:47 Uhr.