
Waffenruhe im Krieg gegen die Ukraine? "In Moskau herrscht große Verwirrung"
Der Vorschlag einer Waffenruhe hat Russland die Hoffnung genommen, gemeinsam mit den USA den ukrainischen Präsidenten Selenskyj unter Druck setzen zu können, sagt der Russland-Experte Andreas Heinemann-Grüder. Moskau dürfte nun versuchen, Zeit zu schinden.
tagesschau24: Was erwarten Sie, wie Russland auf diesen Vorschlag für eine Waffenruhe reagiert?
Andreas Heinemann-Grüder: In Russland regt man sich schon furchtbar auf, insbesondere in der Bloggersphäre, wo man vor zehn Tagen triumphierte, US-Präsident Donald Trump wäre jetzt auf ihrer Seite. Und nun sehen sie, dass sie selbst unter Druck geraten und dass der Druck von Trump auf die Ukraine durchaus Wirkung gezeigt hat, weil von vielen Dingen mittlerweile schon nicht mehr die Rede ist.
Die Russen werden sich jetzt fragen: Lässt sich so ein Waffenstillstand etwa überhaupt auf Luft und Wasser begrenzen, wenn es gleichzeitig am Boden weiter Kämpfe gibt? Denn bisher sind die Bedingungen vollkommen unklar. Und die Frage ist auch: Haben die Amerikaner eigentlich Druckmittel gegenüber den Russen, auf die die russische Führung dann reagieren müsste?

"Russland wird vermutlich Zeit schinden"
tagesschau24: Inwieweit gehen Sie davon aus, dass Russland sich überhaupt auf eine Feuerpause einlassen würde?
Heinemann-Grüder: Darüber lässt sich im Moment nur spekulieren. Sie werden vielleicht auch Ablenkungsmanöver machen. Gestern gab es ein Treffen zwischen dem russischen Außenminister Sergej Lawrow und dem OSZE-Generalsekretär Feridun Sinirlioglu, und daraus könnte man sehen, dass man vielleicht versucht, die Agenda auf eine andere Bühne zu verschieben, um nicht den Eindruck zu erwecken, man wäre jetzt nicht konstruktiv dabei.
Aber ich vermute, die Hauptreaktion der Russen wird jetzt erst mal sein, Zeit zu schinden. Die Medien waren gestern und sind heute voll von den ukrainischen Angriffen auf Moskau, dass hier barbarische ukrainische Angriffe stattfinden würden - das beherrscht zumindest die russischen Medien.
Sanktionslockerungen als Anreiz?
tagesschau24: Bedeutet das, dass man versucht, es so darzustellen, dass man sich gegen eine Aggression von außen verteidigen muss?
Heinemann-Grüder: Richtig. Dadurch würde die Vertrauenswürdigkeit der ukrainischen Regierung wieder in Frage gestellt. In Russland war man vor zehn Tagen schon der Ansicht, jetzt fordere auch Trump, dass der vermeintliche Diktator Selenskyj abgesetzt wird. Davon sind sie jetzt wieder ab. Die Möglichkeit, mit Trump gegen Selenskyj vorzugehen, ist nicht gegeben.
Ich vermute, dass da jetzt große Verwirrung darüber herrscht, wie sie darauf reagieren und dass sie abwarten werden, was die Amerikaner ihnen dafür anbieten, damit sie sich auf einen Waffenstillstand einlassen. Ob zum Beispiel Sanktionen aufgehoben werden. Da wird Russland Forderungen stellen.
"Die europäischen Sanktionen sind entscheidender"
tagesschau24: Wäre das nicht genau gerade der Hebel, den die USA jetzt hätten, um die Waffenruhe durchzusetzen?
Heinemann-Grüder: Einerseits ja - auf der anderen Seite muss man sagen: Die europäischen Sanktionen gegen Russland sind insgesamt viel entscheidender, weil der Handel zwischen den USA und Russland ohnehin nicht sehr substanziell ist, weder für die Amerikaner noch für die Russen.
Insofern könnten die Amerikaner eigentlich nur mit Sekundärsanktionen drohen. Oder sie könnten androhen, die Reichweitenbeschränkungen für amerikanische Raketen aufzuheben (und die dann auch russisches Territorium treffen könnten, Anm. d. Red.), was Ex-Präsident Joe Biden im vergangenen Jahr nur zeitweilig erlaubt hat. Trump könnte also in etwa sagen: 'Weil ihr nicht konstruktiv seid, erlauben wir jetzt den Ukrainern, nach einer 30-Tage-Frist auch weit ins russische Territorium hineinzuschießen.'
"Die russische Führung muss jetzt eigentlich taktieren"
tagesschau24: Sie haben die Verwirrung dadurch angesprochen, dass Trump sich erst auf die Seite von Putin zu stellen schien und jetzt offenbar in gewisser Weise auch wieder von ihm abrückt. Was kann das auslösen, gerade bei jemandem, der so gestrickt ist wie der russische Präsident?
Heinemann-Grüder: Die russische Führung muss jetzt eigentlich taktieren. Und ich glaube, sie wissen nicht, ob Trump überhaupt noch berechenbar ist. Das heißt: Da wird ein großes Rätselraten über die Motive der Amerikaner stattfinden.
Eines muss man sich im Kreml klar machen: Trump will diesen Krieg von der Agenda der Amerikaner haben und will dann den Ball an die Europäer abschieben. Vor zehn Tagen sahen sie eine Chance, Widersprüche zwischen den Europäern und den Amerikanern sowie zwischen den Amerikanern und der Ukraine für sich auszunutzen. In dieser Hinsicht sieht es jetzt aber eher schlecht für die Russen aus.
"Noch nicht in Euphorie ausbrechen"
tagesschau24: Unterm Strich: Welche realistischen Chancen sehen Sie bei all diesen taktischen Manövern, die jetzt vielleicht im Hintergrund ablaufen, diesen Angriffskrieg gegen die Ukraine ganz zu beenden? Und welchen Preis müsste dann wohl die Ukraine dafür zahlen?
Heinemann-Grüder: Wir sollten den möglichen Waffenstillstand und auch das mögliche Kriegsende nicht am Anfang überfrachten. Statistisch werden Waffenstillstände sehr häufig gebrochen und selbst von den UN vermittelte Friedensabkommen brechen in etwa 50 Prozent der Fälle. Wir sollten im Moment noch nicht in Euphorie ausbrechen.
Das sind mögliche vertrauensbildende Maßnahmen, die in den nächsten vier Wochen stattfinden. Und man wird dann sehen, ob es Kommunikationskanäle darüber gibt, über die Kontakt- oder die Frontlinie hinweg, die belastbar sind. Und dann wird man daraus Schlüsse ziehen. Aber wir sind noch nicht an einem Punkt, wo der Frieden ausbricht.
Klar ist: Die Ukraine wird nicht alle ihre Territorien zurückkommen. Der Status quo wird festgeschrieben. Kiew will aber Sicherheitsgarantien haben, und das scheint mir das Entscheidende zu sein. Wer ist bereit, robuste Garantien zu liefern? Die Amerikaner haben schon gesagt, sie machen es nicht. Selenskyj sagt, er braucht 200.000 Soldaten. Wer von den Europäern wäre bereit, so viele Truppen zu stellen?
Das Gespräch führte Kathrin Schlaß, tagesschau24. Für die schriftliche Version wurde es leicht bearbeitet.